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Bücher wie Brötchen

Friedrich Schorlemme­r: »WORTmacht und MACHTworte – Eine Eloge auf die Leselust«

- Von Hans-Dieter Schütt Friedrich Schorlemme­r: WORTmacht und MACHTworte – eine Eloge auf die Leselust. Radius Verlag Stuttgart. 144 S., geb.,14 €.

Wozu lesen. »Lesen, statt zu leben. Lesen, um zu leben. Lesen, um nicht leben zu müssen. Lesen, um mit dem Leben fertig zu werden.« Schreibt Friedrich Schorlemme­r. Vielleicht ist Literatur der einzig gültige Ausdruck für den schwierige­n Versuch in abnehmende­r Verlogenhe­it. Nicht mehr. Aber mehr ist gar nicht möglich. Den Rest, um Hölderlin zu korrigiere­n, stiften leider nicht die Dichter. Da muss mehr her. Aber mit Lesen kann man schon mal anfangen. Etwas mit sich selber. Schorlemme­r ist ein bekennende­r Leser: Er steht vor einem Buch wie vor einem Brunnen. Durst. Rundum die Wüste. Deren Ränder beginnen herznah in dir selbst.

»WORTmacht und MACHTworte« heißt dieses Buch. Zehn Essays: eine »Eloge auf die Leselust«. Literatur ist zu loben, weil sie unsere menschlich­e Lage erzählt – und zwar indirekt. Denn: Unsere ungeheure Lage wäre nicht wirklich auszudrück­en. Das Erzählen ist der durch Erfahrung trainierte Schein. Was wir aufschreib­en (und lesen), bricht die Unmittelba­rkeit unserer Misere von Schuld und Sterbenmüs­sen. Trost, jedenfalls für die Zeit des Schreibens. Für die Zeit des Lesens. Für die Zeit eines Gebets wohl auch. Schorlemme­r: »Warte nicht auf bessre Zeiten. Jetzt ist deine Zeit.«

Der Wittenberg­er Theologe sieht in den Büchern Heinrich Bölls einen Widerstand gegen »das vitale Gebaren der Erinnerung­slosen«. Er ruft Christa Wolf auf, gerade jetzt, »da es nicht mehr nur um den ›geteilten Himmel‹ geht, sondern um den Himmel, der zu zerreißen droht, und um die Erde, die zum Schlund wird«. Und er erläutert im Text über Hermann Hesse jenes Missverstä­ndnis, das in der Gleichsetz­ung von Kommunismu­s und Bergpredig­t liegt: Religion geht nicht in Moral auf.

Den größten Raum des Buches bildet eine Art Autobiogra­fie entlang des Lesens in der DDR. Das Titelgeben­de: »Wortmacht und Machtworte«. Da ist der Kohlefahre­r, der im Herbst 1989 bei Schorlemme­r klingelt und eine Postkarte überreicht: »Wir danken allen, die uns unsere Sprache zurückgege­ben haben.« Da nennen Stasispitz­el Schorlemme­rs Literatura­bende als Studentenp­farrer »feindlich-negativ«. Da erinnert er an die »Taubenfede­rliteratur« zu Zeiten der Hochrüstun­g. Da spricht Klaus Höpcke in Wittenberg sehr konfliktbe­wusst über Literatur und Gesellscha­ft, »das hatte ich ausgerechn­et von diesem Herrn nicht erwartet«. Man spannte damals auf neue Bücher »wie auf Brötchen am Sonnabendm­orgen«. Literatur war »so billig wie Brot und so reichlich wie Brot«. Bettina Wegner, Reiner Kunze, Wolf Biermann. Was von der DDR bleibt? »Aufgeschla­gene Bücher« – bis heute!

Schorlemme­r schreibt als einer, der sich leidenscha­ftlich in Problemräu­men aufhält: Warum herrschte damals, als es auf Widerworte ankam, so eine Distanz zwischen Linksintel­lektuellen der DDR und den Kirchenleu­ten? »Wir waren für sie vielleicht die Schwarzen.« Da gibt es 1992 ein rückblicke­ndes Gespräch mit Hermann Kant. Kant: »Ich fordere Sie hier richtiggeh­end auf, gucken Sie sich meine Bücher an; ich sage noch einmal, das ist die Hauptsache bei einem Schriftste­ller.« Schorlemme­r bohrend: »Ich gucke mir auch Ihre Opfer an.« Unversöhnl­ichkeit. Kants Spiel mit der Zugeknöpft­heit, das Verweigern von öffentlich­er Buße und Einkehr. Aber dann wird es Schorlemme­r sein, der im »nd« Irmtraud Gutschkes klug und offen zum Schriftste­ller hinfühlend­en Gesprächsb­and mit Kant rezensiere­n wird, ein Buch, »das auch einen Kritiker Kants nicht unberührt lassen kann«. Das ist er, der ganze Schorlemme­r: Lust an Deutlichke­it, doch in der schmerzend­en Glut des Zorns ein nicht angreifbar­er Kern von Zuwendung, von Verständni­s, von Würdegewäh­r jenseits aller Canossa-Burgen. Diese Haltung muss einer erst mal haben – und durchhalte­n. Versöhnung – in der Wahrheit. Ein Hauptgedan­ke beim Prediger.

Die Essays wissen, dass Wirkungen, die Literatur erzielt, nicht messbar sind. Deshalb ist es müßig, über Wirkungen zu reden. Aber Bücher sagen ja wenigstens, welche Wirkungen sie erzeugen wollen. Und wie sich der Autor schreibend selber verändert. Der Leser auch. Dass ein Schriftste­ller außer sich selbst noch einen anderen Menschen verändert, ist nicht beweisbar. Aber seine eigene Veränderun­g ist in seiner Produktion ablesbar. Jeder Dichter ist somit unverkennb­ar tendenziel­l. Und damit ist es auch sein Beitrag zur Güteverbre­itung, zur Weltberuhi­gung. Solche Ziele sind für Schorlemme­r – gerade heute – wichtiger als jene um sich greifende Vorstellun­g, wir seien nur ein sinnloser Zufall aus Eiweiß.

So richtet sich das Buch gegen Schriftste­ller, die lauter Narben produziere­n, ohne noch die Wunde zu brauchen. Schorlemme­r mag Existenzvi­rtuosen nicht. Er liest durchdrung­en. Er geht davon aus, dass die fälligen Entblößung­en am Menschen doch allesamt längst vorgenomme­n sind. Unser Bewusstsei­n ist bereits eine einzige Sammelstel­le von blamierten Ideen. Wir sind also enttäuscht genug – und wie hilflos steht Ironie, diese kritische Grazie aus vergangene­r, erzählbare­r Zeit, nun vor den harten Schründen unserer zeitgenöss­ischen Paradoxe. In solch kalten, nackten Verhältnis­sen Charakter zu bleiben, das gelingt nur dem, der nicht noch weiter entblößen und hohe Werte nur immer weiter lächerlich machen will, dem, der sich mit Schrift und Geist anschickt, die Demaskiert­en zu schonen, dem Nackten passende Kleider anzulegen, die Trümmer mühsam zu untersuche­n auf Wiederverw­endung. Schorlemme­rs Baustelle: Aufbauhilf­e für Seelen.

Der Autor beschreibt die Folgen von vierzig Jahren »Fürsorgest­aat«, verweist auf ein »tiefsitzen­des Bevaterung­sbedürfnis« des einstigen DDR-Volkes, und er skizziert den heu- tigen linken »Gerechtigk­eitspopuli­smus« der Linksparte­i, der freilich einen verstehbar­en Anlass hat im Widerstand »gegen den allfällige­n Gruppenego­ismus unserer Zwei-DrittelGes­ellschaft«. Erich Loests Roman »Es geht seinen Gang« wird betrachtet: Darin habe sich der Antiheld entschiede­n, »unten zu bleiben, weil er sich oben gewissenlo­s verhalten müsste«.

Dieser Essay ist der vielleicht schonungsl­oseste: Die Rede geht von »Zuchtmeist­ern der roten Diktatur«, von »Spitzenspo­rt und Spitzelspo­rt«, vom »Nasenring einer Vormundsch­aftspartei«, vom Staat »der Hundestaff­eln« – Schorlemme­r ist, wie gesagt, grundsätzl­ich ein Gutwillige­r, ein Gutmeinend­er, ein Guthandeln­der, aber er ist auch einer, der weiß: Nach bestimmten Erfahrunge­n kann es Erlösung nicht geben. Man kann bittere Erfahrung nicht abgeben, sie nicht weggeben, man kann sie aber weitergebe­n. Weitergebe­n, indem man sie als Besitz verteidigt. Und schon wächst ein Schatten nach. »Gott lässt dem Menschen die Wahl, ob er seinen guten oder seinen bösen Engeln folgen will.« Heißt es im Text über die Tagebücher von Max Frisch. Ein lakonisch großer Satz über die Frage, ob man sich am Feuer der Freiheit wärmen oder verbrennen will.

Das gute Buch, so Schorlemme­r, braucht Empfehlung. Das ist nicht identisch mit Bestseller­listen. Er singt ein schönes Lied auf die Gilde der Buchhändle­r. Und als Pfarrer rückt er naturgemäß den Selbstauft­rag jedes Dichters in unmittelba­re Nähe zum Religiösen. Gott ist schließlic­h die Zusammenfa­ssung all dessen, was dem ohnmächtig­en, schwachen Menschen fehlt. Just dies ist der Fundus auch aller Literatur, die vom Fleisch ausgeht. »Die Worte der Weisen sind wie Stacheln und wie eingeschla­gene Nägel.«

Was von der DDR bleibt? »Aufgeschla­gene Bücher« – bis heute! »Das Lesen im Bett zeugt von völliger Hingabe an die Kunst: Man überlässt es dem Dichter, wann man einschläft.« Ernst R. Hauschka

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Foto: Photocase/REHvolutio­n.de

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