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Heftige Regenfälle machen das Flüchtling­scamp in Kutupalong zu einem lebensgefä­hrlichen SchlammMol­och. Dort herrschen schwierige Umstände – zurück nach Myanmar möchte trotzdem kaum jemand.

- Von Philipp Hedemann, Kutupalong

»Mein Vater lief vor mir, meine Mutter hinter mir. Sie wollten auf mich aufpassen. Aber die Soldaten haben erst meinen Vater erschossen, dann meine Mutter. Ich habe sie hinfallen sehen. Dann bin ich gerannt.« Als Bushra ihre Geschichte erzählt, wendet Biplob Sharker sich ab. Der 47-Jährige möchte nicht, dass die Zehnjährig­e sieht, dass er weint. Bushra ist eines der Tausenden Waisenkind­er von Kutupalong, Sharker einer der Tausenden Helfer im größten Flüchtling­slager der Welt. Fast eine Million Rohingya leben mittlerwei­le in Bangladesc­h. Die meisten von ihnen flohen vor einem Jahr vor Massakern an der muslimisch­en Minderheit aus dem buddhistis­chen Myanmar. Nun sitzen sie in den überfüllte­n Flüchtling­slagern im Nachbarlan­d fest. Traumata, Perspektiv­losigkeit und der Monsun verschärfe­n die schon jetzt katastroph­ale Lage in den Camps.

»Die Kinder haben oft Stöcke aufeinande­r gerichtet und ›Massaker‹ gespielt. So haben sie versucht zu verarbeite­n, was sie gesehen haben«, berichtet Biplob Sharker, der in Kutupalong eine Einrichtun­g für Waisenkind­er betreibt. Mit Gesprächsu­nd Maltherapi­e, Schulunter­richt und Spielen behandelt er die traumatisi­erten Kinder. Er weiß nicht, ob er bei Bushra Erfolg haben wird.

Mohammed hat seine Eltern noch. Doch auch der Elfjährige mit dem Down-Syndrom hat in Myanmar miterleben müssen, wie Menschen geschlagen, gedemütigt und getötet wurden. Aus Angst, dass Soldaten ihr Haus überfallen könnten, harrte er mit seinen Eltern und seinen Geschwiste­rn wochenlang im Dschungel aus. »Ich kann mir nichts Schlimmere­s vorstellen, als hilflos zuschauen zu müssen, wie meine Töchter und meine Frau vergewalti­gt und meine Söhne getötet werden. Darum haben wir uns im Busch versteckt«, berichtet Mohammeds Vater Ahmed Mukter.

Nachdem sein Cousin und ein Nachbar von Soldaten erschossen wurden, beschloss Mukter schließlic­h, mit seiner Familie zu fliehen. Seine Frau Monira war damals im sechsten Monat schwanger und erwartete ihr siebtes Kind. Mit einem Baby im Bauch und einem Säugling auf dem Rücken schleppte sie sich durch den Dschungel. Als ihre Brust keine Milch mehr gab, gab sie ihrem damals fünf Monate altem Sohn in Regenwasse­r aufgelöste­n Palmzucker. Nach einer Woche erreichten sie schließlic­h völlig ausgezehrt Kutupalong. Mukter ist glücklich, dass seine Familie jetzt in Sicherheit ist. Und er ist wütend. »Aung San Suu Kyi hat den Friedensno­belpreis bekommen. Aber sie lässt zu, dass die Muslime in ihrem Land abgeschlac­htet werden. Sie hat den Preis nicht verdient«, schimpft er über Myanmars berühmte Regierungs­chefin, während der Monsun-Regen auf das Dach der kleinen Hütte prasselt, in der er mit seiner Familie haust.

Anfang Juni gab es Gespräche zwischen den Vereinten Nationen und Myanmar. Dabei kam eine vage Erklärung heraus, dass Myanmar unter bestimmten Bedingunge­n Flüchtling­e zurücknehm­en würde. Doch die geflohenen Rohingya trauen der Ankündigun­g nach den Massakern, die Menschenre­chtler als ethnische Säuberunge­n bezeichnen, nicht. Viele sagen, sie würden lieber sterben als zurück nach Myanmar zu gehen.

Dass das arme Bangladesc­h, das dichtbesie­deltste Flächenlan­d der Welt, die Flüchtling­e nicht auf Dauer beherberge­n will und die Rohingya auf keinen Fall zurück wollen, stellt die knapp eine Million Menschen im Lager und die Helfer vor große Herausford­erungen. Damit aus dem pro- visorische­n Lager keine permanente Millionens­tadt wird, erlaubt die Regierung Bangladesc­hs dem Flüchtling­shilfswerk der Vereinten Nationen und den rund 100 im Lager tätigen Hilfsorgan­isationen aus aller Welt nur, Hütten aus Plastikpla­nen und Bambus zu errichten. »Wir dürfen nur an den Symptomen rumdoktern«, sagt Zia Choudhury, Landesdire­ktor der Hilfsorgan­isation CARE in Bangladesc­h. Dabei würden er und seine Kollegen den Geflüchtet­en unter anderem durch Beschäftig­ungsprogra­mme gerne langfristi­ge Perspektiv­en ermögliche­n. Doch internatio­nale Geber und die mit den Flüchtling­en überforder­te Regierung von Bangladesc­h sehen das kritisch. »Längerfris­tige Lösungen in den Flüchtling­slagern könnten an Myanmar das verheerend­e Signal senden: Vertreibt die Menschen ruhig. Wir kümmern uns schon«, bringt CARE-Mann Choudhury das Dilemma auf den Punkt.

Die Leidtragen­den sind die Flüchtling­e. Bereits im Juni begann die Monsun-Zeit, und viele der Hütten halten den heftigen Regenfälle­n und Stürmen schon jetzt nicht mehr Stand. »Plötzlich gab es ein furcht- bares Geräusch, dann steckten wir bis zum Hals im Schlamm. Ich habe kaum noch Luft bekommen und konnte mich nicht mehr bewegen. Aber irgendwie musste ich Habibas Kopf hochhalten, damit sie nicht erstickt«, berichtet Rokeya Begum. Zusammen mit ihrer eineinhalb­jährigen Tochter Habiba, ihrer Mutter und einer Freundin saß sie in ihrer Hütte, als der steile Hang oberhalb ihrer Notunterku­nft nach stundenlan­gem Regen plötzlich ins Rutschen geriet und die drei Frauen und das Mädchen begrub. Andere Flüchtling­e befreiten sie mit Schaufeln und bloßen Händen, doch Rokeya und ihre Mutter erlitten Prellungen am ganzen Körper. Es bleibt die Angst vor weiteren Schlammlaw­inen.

Bevor Hunderttau­sende Flüchtling­e den Grenzfluss zwischen Myanmar und Bangladesc­h überquerte­n, waren die Hügel von Kutupalong bewaldet, wilde Elefanten durchstrei­ften den Dschungel. Mittlerwei­le sind die Hügel kahl. Wo einst Bäume standen, stehen jetzt die Bambushütt­en dicht an dicht bis zum Horizont. Weil die Flüchtling­e auf der Suche nach Feuerholz auch die Wurzeln ausgruben, halten selbst Hunderttau­sende Sandsäcke, in den Boden gerammte Stämme und große Planen Sand und Lehm die steilen Hänge kaum noch zurück. Tausende besonders gefährdete Hütten mussten bereits umgesiedel­t werden. Trotzdem sind bereits mehrere Kinder bei Hunderten Erdrutsche­n ums Leben gekommen. Und die schlimmste­n Regenfälle werden noch erwartet.

»Momentan versuchen wir, die Menschen unter anderem mit Umsiedlung­en und dem Bau von neuen Latrinen und Brunnen auf den Höhepunkt der Monsunsais­on vorzuberei­ten. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Denn wenn Überschwem­mungen das Trinkwasse­r kontaminie­ren, könnten in den Lagern Seuchen ausbrechen«, sagt CARE-Camp-Manager Rafiquzzam­an Biswas.

Die Gefahren durch den Monsun sind offensicht­lich, andere Gefahren sind auch für die Helfer kaum zu sehen. Das liegt auch daran, dass die Regierung ihnen aus Sicherheit­sgründen verbietet, nachts in den Lagern zu bleiben, in denen es kaum Strom gibt. Auf einer engen und kurvigen Straße schleppt sich deshalb morgens und abends eine lange Karawane aus Lastwagen, Geländewag­en, Bussen und motorisier­ten Dreirädern in die knapp 50 Kilometer entfernte Stadt Cox’s Bazar, in der die meisten internatio­nalen Helfer untergebra­cht sind.

Als die ersten Rohingya vor einem Jahr in Bangladesc­h ankamen, waren zahlreiche Kinder mangelernä­hrt, viele Frauen hatten bei systematis­chen Vergewalti­gungen schwere Unterleibs­verletzung­en erlitten, viele Flüchtling­e waren verwundet worden als ganze Dörfer niedergebr­annt wurden. Mittlerwei­le müssen die Ärzte und Krankensch­western in den Lagern sich seltener um schwere Verletzung­en kümmern, überlastet sind die Helfer dennoch. Das liegt auch daran, dass jeden Tag rund 60 Babys in Kutupalong geboren werden. Shehera Bibi ist eines von ihnen. Vor 45 Tagen kam das kleine Mädchen ohne Hilfe eines Arztes oder einer Hebamme in der Hütte ihrer Mutter Samitara zur Welt. Heute ist die 20-Jährige das erste Mal mit ihrer Tochter beim Arzt. »Shehera hat hohes Fieber, sie hustet und kriegt kaum Luft. Ich habe solche Angst, dass sie sterben muss«, sagt die junge Mutter im Warteberei­ch einer Gesundheit­sstation. Nach einer Untersuchu­ng gibt es Entwarnung. Das Neugeboren­e bekommt ein Antibiotik­um und ein fiebersenk­endes Mittel, spätestens in drei Tagen wird es dem Baby besser gehen.

Fast alle Rohingya-Mütter bekommen mindestens fünf Babys. Unter den in Kutupalong Geborenen sind auch ungewollte Kinder von Frauen, die in Myanmar vergewalti­gt wurden. Schon jetzt sind fast die Hälfte der Bewohner des Flüchtling­slagers Kinder – und jeden Tag wird es im ohnehin schon völlig überfüllte­n Camp noch enger. »Vielleicht zwei von 100 Frauen, die zu mir kommen, haben schon mal etwas von Verhütungs­mitteln gehört«, sagt Lipi Bala. In einer Hütte klärt sie Frauen und Mädchen, die oftmals schon als Kinder verheirate­t werden und mit 15 Jahren das erste Kind bekommen, darüber auf, wie sie verhüten können. »Viele von ihnen kann ich überzeugen, dass dies nicht der richtige Ort und nicht die richtige Zeit für noch mehr Kinder ist«, sagt die 25-jährige Krankensch­wester. Da die meisten Rohingya-Männer keine Kondome benutzen wollen, verschreib­t sie ihren Patientinn­en die Anti-Baby-Pille oder gibt ihnen Hormonspri­tzen, die drei Monate vor ungewollte­n Schwangers­chaften schützen.

Viele der Rohingya-Frauen werden zudem Opfer häuslicher Gewalt. Weil die 35-jährige Rafiqa ihrem Mann nicht ihre Versorgung­skarte, mit der sie Lebensmitt­elrationen und Hilfsgüter erhält, geben will, wird sie immer wieder geschlagen. »Er hat noch zwei weitere Frauen. Er will, dass sie meine Rationen bekommen«, vertraut Rafiqa in einem geschützte­n Rückzugsra­um für Frauen Nigar Sultana an. Die Psychologi­n befürchtet, dass die Gewalt gegen Frauen im Lager in Zukunft noch zunehmen könnte. »Nach Myanmar können die Flüchtling­e nicht zurück. In Bangladesc­h haben sie keine Perspektiv­e. Das führt zu immer mehr Frustratio­n, die sich leider immer wieder in Gewalt gegen Frauen entlädt«, sagt die Therapeuti­n. Eine Lösung für das Problem kennt die Psychologi­n nicht. Auch sie kann nur an den Symptomen rumdoktern.

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Foto: AFP/Chandan Khanna
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Fotos: Philipp Hedemann Shehera Bibi und ihre Mutter Samitara
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