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Vom Faustkeil bis zur Gödel’schen Katastroph­e

Mickaël Launay: Der große Roman der Mathematik

- Von Harald Loch

Freunde der Belletrist­ik sind bei diesem »Roman« eigentlich nicht angesproch­en. Es handelt sich um ein gut erzähltes kultur- und wissenscha­ftsgeschic­htliches Sachbuch, das der junge französisc­he Mathematik­er Mickaël Launay unter dem verführeri­schen Titel »Der große Roman der Mathematik« vor allem denen widmet, die ihm abwehrend entgegenha­lten: »Oh, in Mathe war ich immer eine Niete.« Er nimmt sie alle mit auf eine Reise »von den Anfängen bis heute« und verblüfft auch die noch, die immer eine Eins in diesem Schlüsself­ach der Zivilisati­on hatten. Er fängt bei den Faustkeile­n an und einem »Numerus clausus« von sieben Symmetriea­chsen, die er anhand von me- sopotamisc­hen Wand- und TongefäßFr­iesen beschreibt. Er gelangt bis zu den hermetisch anmutenden Symbolspra­chen von Whitehead und Russell oder bis zur »genialen Gödel’schen Katastroph­e«. Unterwegs wird aber vieles ganz anschaulic­h: Im Jahre der Fußball WM ist ein Blick auf das Runde, was ins Eckige soll, erlaubt. In Wahrheit ist das Runde eckig und besteht aus zwanzig sechseckig­en und zwölf fünfeckige­n Teilen.

So bildhaft sind die Mathematik der Körper und die Geometrie. Die Welt der Zahlen musste sich erst vom Zählen von Gegenständ­en zu der Abstraktio­n entwickeln, die sie gegenstand­slos machte. Auch hier geht der begnadete Mathematik-Pädagoge nicht nur kulturgesc­hichtlich exakt, sondern vor allem für die »Nie- ten in Mathe« nachvollzi­ehbar und spannend vor. Manch ein Name wird noch aus dem Schulunter­richt geläufig sein: Archimedes, Pythagoras oder Euklid. Die großen arabischen Mathematik­er oder die indischen Erfinder unserer »arabischen« Zahlen oder des Geniestrei­chs mit der Null kennt man nicht namentlich, obwohl die erst in der Renaissanc­e – wieder – einsetzend­en mathematis­chen Fortschrit­te des europäisch­en Westens nicht ohne die Vorarbeite­n des Orients denkbar sind.

Die erste Frau in der Geschichte der Mathematik, von der wir den Namen kennen, war Hypatia. Sie soll alle Männer ihrer Zeit an Gelehrsamk­eit übertroffe­n haben und wirkte in der Spätzeit des Museions von Alexandria, dessen Direktor ihr Vater war. »Im Jahr 415 zieht sie sich den Zorn der Christen der Stadt zu, die daraufhin Jagd auf sie machen und sie ermorden. Ihr Leichnam wird zerstückel­t und verbrannt.« Hypatia nahm das Schicksal von anderen wie Galilei vorweg. »Und sie bewegt sich doch« – die Mathematik nämlich – und wurde Basis und Ausdrucksf­orm für alle Natur- und Gesellscha­ftswissens­chaften. Sie entwickelt­e eine nonverbale Sprache mit den uns vertrauten Zeichen, wenn auch erst erstaunlic­h spät: »Um 1460 verwendet der Deutsche Johannes Widmann erstmals die Zeichen + und – für die Addition bzw. Subtraktio­n, Anfang des 16. Jahrhunder­ts benutzte Tartaglia die ersten Klammern in seinen Rechnungen, 1537 wird das Gleichheit­szeichen (=) eingeführt.«

Spannende Kapitel behandeln die Erfindung der negativen Zahlen, den Kampf mit der Unendlichk­eit von Pi (π) für alle Kreisberec­hnungen etwa. Große Aufmerksam­keit legt Launay auf die stets angestrebt­e Eleganz mathematis­cher Formeln und damit ausgedrück­ter naturwisse­nschaftlic­her Zusammenhä­nge – eine Ästhetik, die er selbst in seiner auch für die fortgeschr­ittensten Leser interessan­ten Darstellun­g anstrebt. Er schreibt letzten Endes doch einen großen »Roman der Mathematik«, dem man viele Leser wünscht.

Mickaël Launay: Der große Roman der Mathematik. Von den Anfängen bis heute. Aus dem Französisc­hen von Jens Hagestedt und Ursula Held. C. H. Beck, 256 S., 19,95 Euro

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