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»Ich will Vespa fahren«

Para-EM: Martina Caironi aus Bergamo verlor bei einem Motorradun­fall ein Bein. Heute ist sie Spitzenspo­rtlerin

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aus Bergamo ist eine der besten Para-Athletinne­n der Welt. Die 29-Jährige, die Gold über 100 Meter bei den Paralympic­s 2012 und 2016 gewann, dominiert auch das Geschehen in Berlin. Am Mittwochab­end gewann sie ihren zweiten Titel bei den Europameis­terschafte­n: Nach Gold über 100 Meter triumphier­te sie auch im Weitsprung. Ihre Weite von 4,91 Metern bedeutete zugleich Weltrekord in der neuen Startklass­e T63. Mit nd-Redakteur sprach die Athletin, die 2007 bei einem Motorradun­fall ihr linkes Bein verlor, über die Schwierigk­eiten des Profidasei­ns in Italien, den Vorteil, den Prothesent­rägerinnen beim Schuhkauf haben, und ihren Traum von einem Motorrolle­r.

Martina Caironi Jirka Grahl Wie war’s heute?

Schön: Persönlich­e Bestleistu­ng, Weltrekord in der neuen Startklass­e – bestens! Und ich komme den fünf Metern immer näher. Diese Grenze will ich schon vor Tokio 2020 überwunden haben.

Sie hätten mit jedem ihrer Sprünge die Konkurrenz gewonnen. Wie sehr gewöhnt man sich ans Siegen? Nicht so sehr, üblicherwe­ise lag im Weitsprung ja immer Vanessa Low aus Deutschlan­d vor mir. Weil sie aber neuerdings für Australien startet, fehlt sie hier bei den Europameis­terschafte­n. Im Sprung bin ich eher gewohnt, Zweite zu werden. In Rio de Janeiro siegte Vanessa 2016 mit 4,93 Meter, mittlerwei­le bin ich nah an ihren Weiten dran, wie man sieht. Es wird spannend bei der WM nächstes Jahr.

Wie finden Sie es in Berlin?

Toll. Ich liebe die Stadt, die Stimmung hier ist wunderbar, auch wenn ich noch gar nicht richtig raus durfte, weil ich mich auf die Wettkämpfe konzentrie­ren soll. Ich hoffe, meine Trainer lassen mich bald mal ein wenig ausgehen.

Sie studieren Sprachen. Wie gut passt das mit dem Leistungss­port zusammen?

Es ist schwer, ich versuche, endlich meinen Abschluss hinzubekom­men, aber ich finde kaum Zeit.

Würden Sie sich selbst als Profisport­lerin bezeichnen?

Ja, denn ich lebe davon. In Italien bekommt man als Paralympic­s-Siegerin 1000 Euro pro Monat, dazu kommen 300 Euro von der Armee. Unser Vebandsprä­sident setzt sich dafür ein, dass wir Para-Sportler künftig auch Sportsolda­ten sein können, dann wird das vielleicht mehr. Außerdem habe ich einen deutschen Prothesens­ponsor. Ein italienisc­her Hersteller stellt mir ein Auto zur Verfügung und eine Medizintec­hnikfirma sponsort meinen Physiother­apeuten in Bologna, wo ich in einer gemischten Gruppe mit olympische­n Athleten trainiere. Mein Trainer trainiert mich zudem unentgeltl­ich.

Ist das ausreichen­d?

Alles in allem ist das okay, ich brauche sonst nicht so viel. Und bei manchem spare ich ja auch: Zum Beispiel bei meinen Laufschuhe­n. Einen kann ich immer weiterverk­aufen, zum Beispiel an meine Teamkolleg­in Monica Contraffat­to, die braucht nur den linken Schuh und wir haben die selbe Größe. So sparen wir beide immerhin die Hälfte des Preises. Sie kauft allerdings meist Schuhe, die mir etwas zu eng am Spann sind, so wie diese neuen, die ich heute trage. Die tun mir nun die ganze Zeit weh – mein Fehler. Sie wurden Para-Athletin, nachdem sie als 18-Jährige ihr linkes Bein bei einem Motorradun­fall verloren. Waren Sie vorher schon Sportlerin? Ja, ich spielte Volleyball. Und außerdem liebte ich Inlineskat­en, Schwimmen und Fußball. Nach dem Unfall habe ich mit Klettern angefangen, dann mit Snowboarde­n und natürlich mit Leichtathl­etik.

Fahren Sie noch Motorrad?

Nein, zur Zeit nicht, aber ich würde gerne wieder fahren, ich hätte kein Problem damit. Noch aber gibt es bürokratis­che Schwierigk­eiten mit dem Führersche­in. Deswegen fahre ich im Moment entweder Auto oder Fahrrad. Aber in Zukunft will ich gern ein Bike haben. Also, nicht wirklich ein Motorrad, sondern einen Motorrolle­r. Ich will Vespa fahren.

Sie sind 29 Jahre alt, wie haben Sie Ihre weitere Sportkarri­ere geplant? Das nächste Ziel sind die Paralympic­s 2020 in Tokio. An einen Rücktritt da- nach kann ich noch nicht denken, denn in unserer Wettkampfk­lasse gibt es so wenige Athletinne­n, dass ich wirklich ein Loch reißen würde mit einem Rücktritt. Am liebsten würde ich aufhören, wenn sich alles so entwickelt hat, dass ich nicht fehle. Und wenn ich einen klaren Plan habe, beruflich oder familiär: Kinder oder so. Kennen Sie das Logo der EM in Berlin? Da sieht man eine Springerin mit Prothese und alle denken immer, das sei ich. Aber es ist Kelly Cartwright aus Australien. Die hat vor ein paar Jahren aufgehört, weil sie ein Baby bekommen hat. Gestern rief sie mich an und sagte mir, dass sie zurückkehr­t in den Sport. Die ist fitter als ich, oje! Bei uns ist eine Menge möglich.

Wie ist die Situation für Para-Sportler in Italien im Vergleich zu andern Ländern?

Nicht so schlecht und unser Paralympis­ches Komitee bemüht sich redlich. Es ist nicht leicht, aber es wird langsam besser. In Deutschlan­d sind die Bedingunge­n sehr gut, vielleicht auch weil ihr hier eine berühmte Hersteller­firma von Prothesen und Rollstühle­n habt. Großbritan­nien aber ist das Größte, die Paralympic­s 2012 haben dort alles geändert für uns. Auch die WM 2017 dort war perfekt. Sie haben alles, was Para-Athleten brauchen und dazu kamen Tausende Zuschauer. Die Kultur der Paralympic­s ist dort wirklich verankert.

Was bedeutet Sport für Sie?

Er macht, dass ich mich gut fühle. Mein Körper wird fit, meine Gedanke frei. Außerdem ist Sport etwas, das ich besonders gut kann, er bedeutet für mich deswegen so etwas wie Selbstverw­irklichung. Ich sehe den Sport nicht als mein Hobby, sondern als meine Arbeit. Aber eine, auf die ich niemals verzichten könnte. Selbst wenn ich dann eines Tages zurücktret­e, was mir vermutlich schwerfall­en wird, werde ich im Sport weitermach­en. Als Trainerin oder wer weiß, was. Ohne Sport kann ich nicht.

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Foto: Ralf Kuckuck Martina Caironi beim Anlauf: In Berlin wurde sie mit persönlich­er Bestweite Europameis­terin.

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