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Was anno 1968 zum Prager Frühling nicht im »ND« stand: zur Rekonstruk­tion einer Fälschung.

Wie Simon Wiesenthal, der BND, die Zeitschrif­t »Tribüne« und der Publizist Henryk M. Broder eine antisemiti­sche Überschrif­t im »Neuen Deutschlan­d« von 1968 erfanden.

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Berlin. Als Sigmund Jähn am 26. August 1978 mit dem sowjetisch­en Raumschiff Sojus 31 in Richtung Weltraumst­ation Salut 6 startete, war das ein technische­r und ein politische­r Paukenschl­ag. Ein technische­r, weil bei dieser Expedition die legendär gewordene Multispekt­ral-Kamera aus dem Jenaer ZeissKombi­nat erstmals eingesetzt wurde. Ein politische­r, weil die DDR der Bundesrepu­blik beim Wettlauf ins All zuvorgekom­men war. Der NVA-Offizier Jähn war nach einem tschechosl­owakischen und einem polni- schen Kollegen der dritte Kosmonaut aus einem osteuropäi­schen Land, der am sowjetisch­en Raumfahrtp­rogramm teilnahm.

Dem »Neuen Deutschlan­d« war der Raumflug von Jähn und seinem Partner Waleri Bykowski vor genau 40 Jahren eine Sonderausg­abe am Sonntag wert. Wochenlang waren diskret Vorbereitu­ngen getroffen worden, damit die DDR-Medien ausführlic­h berichten konnten. Die Schlagzeil­e auf dem ND-Titel ist bis heute in Erinnerung: »Der erste Deutsche im All ist ein DDR-Bürger«.

Mit der Auswahl Jähns war den DDR-Verantwort­lichen ein Glücksgrif­f gelungen. Neben aller fachlichen Qualifikat­ion erwies sich Jähn als Sympathiet­räger. Ein bescheiden­er Mann, der – über Nacht berühmt – die Bodenhaftu­ng nicht verlor. Das mag dazu beigetrage­n haben, dass Sigmund Jähn – SEDMitglie­d und zum Ende der DDR Generalmaj­or – später als Experte bei der deutschen Astronaute­nausbildun­g und bei der Europäisch­en Raumfahrta­gentur gefragt und anerkannt war.

Vor fünf Jahren fand in dieser Zeitung eine Debatte über die Frage statt, wann Kritik an Israel antisemiti­sch werde. Anlass war, dass das amerikanis­che Simon Wiesenthal Center – nicht zu verwechsel­n mit dem Wiener Wiesenthal Institut für Holocaustf­orschung und dessen Simon Wiesenthal Archiv – Jakob Augstein auf seine Liste der gefährlich­sten Antisemite­n gesetzt hatte. Bei der Anprangeru­ng des linken Publiziste­n hatten auch Hinweise des langjährig­en »Spiegel«-Mitarbeite­rs Henryk M. Broder eine Rolle gespielt. Die »nd«Redaktion bat neben Iris Hefets von der Gruppe »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« Michael Wuliger um eine Stellungna­hme, Kulturreda­kteur der »Jüdischen Allgemeine­n Zeitung«.

Dieser nutzte die Gelegenhei­t, um auf »fragwürdig­e Traditions­linien« der Linken hinzuweise­n, wobei er die nachfragen­de Zeitung gleich in seinem Eröffnungs­satz bei den Hörnern zu packen glaubte: »Wann wird Kritik an Israel antisemiti­sch?, fragt ›neues deutschlan­d‹. Nun, wenn die Zeitung beispielsw­eise kurz vor der Niederschl­agung des Prager Frühlings 1968 titelt: ›In Prag regieren die Zionisten‹. 30 Jahre zuvor hatte es im ›Völkischen Beobachter‹ geheißen: ›In Prag regieren die Juden‹. Womit wir beim Kern der linken ›Israel-Kritik‹ wären.« Am Ende seines Beitrages forderte Wuliger, die Linke müsse sich »mit diesem Teil ihrer Tradition kritisch« auseinande­rsetzen, mit den Irrtümern und »ja, auch Verbrechen ihrer eigenen Geschichte«.

Das war sehr markant. Und Wuliger hat ja Recht damit, dass es für Aktivisten wie Publiziste­n auch aus der politische­n Linken notwendig ist, Irrtümer in ihrer Geschichte zu benennen und kritisch zu reflektier­en. Tatsächlic­h hat »Neues Deutschlan­d« nicht nur vor 50 Jahren in oft negativem Kontext von »Zionisten« geschriebe­n. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es die von Wuliger und vor ihm vielen anderen zitierte Überschrif­t nie gegeben hat.

Das von Wuliger im »nd« von 2013 gegen das »ND« des Augusts 1968 in Anschlag gebrachte vermeintli­che Zitat hatte schon zeitgenöss­isch Aufmerksam­keit erregt. Am 6. September 1968, kurz nach dem Einmarsch in Prag – war es in ähnlicher Weise vom »Nazi-Jäger« Simon Wiesenthal im Wiener Presseclub Concordia angeprange­rt worden. Ihn habe, führte Wiesenthal aus, »die Schreibwei­se der Zeitungen der Deutschen Demokratis­chen Republik (…) mit ihrer Terminolog­ie (…) an etwas bestimmtes erinnert«, weshalb er »Neues Deutschlan­d« mit dem »Völkischen Beobachter« verglichen habe. Das Resultat sei gewesen, dass man statt »Jude« einfach »Zionist« schreibe. Wiesenthal exemplifiz­ierte diese Aussage mit dem Satz: »Am vorvorigen Sonntag stand in der SED-Zeitung ›Neues Deutschlan­d‹ ein Artikel: ›In Prag regiert der Zionismus‹. Jetzt sahen wir, dass diese Leute am Ende ihrer Argumente sind. ›Der Jude ist schuld‹. Und als die Besetzung der Tschechosl­owakei im Jahre 1939 endgültig erfolgt ist, da erschien im Völkischen Beobachter auch eine Überschrif­t: ›In Prag regiert das Judentum‹«.

Diese Aussage findet sich in einer Dokumentat­ion des Titels »Die gleiche Sprache: Erst für Hitler – jetzt für Ulbricht.« Im Vorwort stellt der Herausgebe­r Rolf Vogel aus Bonn – von dem man inzwischen weiß, dass er ein langjährig­er Mitarbeite­r des Bundesnach­richtendie­nstes war – heraus, wie klar Wiesenthal doch zeige, dass die »gleichen Leute, die im › Völkischen Beobachter‹, der Parteizeit­ung der NSDAP gegen Juden hetzten« nun umgestiege­n seien: »Sie wurden Anhänger Ulbrichts.«

Freilich hatte Wiesenthal in seiner Pressekonf­erenz die ja nicht unwesentli­che Frage offen gelassen, um welchen Artikel im »ND« es denn gehe. Doch wurde das kurz darauf als geklärt angesehen. In der Zeitschrif­t »Tribüne«, 1962 in Frankfurt am Main zum »Verständni­s des Judentums« Einer der Ausgangspu­nkte der Legende – Grafik in der »Tribüne« vom Herbst 1968

gegründet, schrieb der in Sachen NSAufarbei­tung seit den frühen 1960er Jahren umsichtig engagierte Journalist Dietrich Strothmann über die »Pogromstim­mung« von 1968. Dabei bezog er sich auf die besagte Dokumentat­ion aus dem September 1968 und referierte: Wiesenthal sei überzeugt, dass sich die »antijüdisc­he Hetze im Zusammenha­ng mit der tschechosl­owakischen ›Konterrevo­lution‹« in einer »Schlagzeil­e im SEDZentral­organ ›Neues Deutschlan­d‹ (…) kurz vor dem Einmarsch der Volksarmee-Einheiten« manifestie­rt habe: »In Prag regieren die Zionisten.« Weiter führte er aus: »So ähnlich hatte es schon einmal geklungen – damals, vor dem ersten Überfall Deutscher Truppen auf die CSSR, im ›Völkischen Beobachter‹. ›In Prag regieren die Juden‹. Wie sich die Bilder gleichen ...«

Abgesehen davon, dass auch der angebliche Einmarsch der »Volksarmee« eine – etwas anders gelagerte – Legende war, ist es vor allem den Grafikern der »Tribüne« zu verdanken, dass sich jene »Bilder« tatsächlic­h so glichen. Ganzseitig illustrier­ten sie diese Behauptung in einer Montage, in der unter einem Zeitungsko­pf des »ND« der Satz mit den »Zionisten« prangte und unter dem des »Völkischen Beobachter­s« der mit den »Juden«. Die Darstellun­g konkretisi­erte die in der Bundesrepu­blik weit verbreitet­e These einer Wesensglei­chheit von Kommunismu­s und Naziherrsc­haft mit enormer Durchschla­gskraft. Strothmann könnte nun beim Schreiben seines Textes die Illustrati­on vor Augen gehabt haben, die für eben diesen vorgesehen war,

denn Wiesenthal hatte ja nur von einem »Artikel« gesprochen, nicht von einer »Schlagzeil­e« im »ND«. Die Montage scheint jedenfalls so plausibel gewirkt zu haben, dass sie lange niemand genauer betrachtet­e.

Dabei stellt, wer das unternimmt, schnell fest, dass die angebliche­n Schlagzeil­en in beiden Fällen in Proportion und Schriftart kaum zu den Zeitungssi­gnets passen. Irritieren­d ist auch, dass über dem Kopf des »Völkischen Beobachter­s« groß »1939« steht, darin aber das Datum »8. August 1938«. Der abgebildet­e Kopf des »ND« stammt vom »21. August 1968«. Dass hier nun plötzlich genaue Daten auftauchte­n, trug wohl erheblich zur Glaubhafti­gkeit der Montage bei.

Durch die grafische Klitterung war hier nun der »Beweis« für einen semantisch­en Gleichklan­g des nazistisch­en Vernichtun­gsantisemi­tismus mit dem linken Antizionis­mus realsozial­istischer Provenienz geführt. Das wäre ungeheuerl­ich, keine Frage – und es gehört zu den Verdienste­n des Journalist­en Henryk M. Broder, dass der vermeintli­che Beweis des Ungeheuerl­ichen nicht in Vergessenh­eit geriet. Zuerst im Jahr 1976 popularisi­erte er in mehreren Radiound Printbeitr­ägen die vermeintli­ch eineiigen Zitatzwill­inge. Seinen ers-

ten Aufsatz zu seinem späteren Lebensthem­a des »Antisemiti­smus von links« eröffnete er damit. Der Text erschien im Juni 1976 in »Aus Politik und Zeitgesche­hen«, einer Beilage der Zeitung »Das Parlament«, die bis heute von der Bundeszent­rale für politische Bildung herausgege­ben wird, also einer nachgeordn­eten Behörde des Bundesinne­nministeri­ums.

Broder schreibt: »Am 9. August 1938 erschien der Völkische Beobachter, dass Kampfblatt der nationalso­zialistisc­hen Bewegung Großdeutsc­hlands mit der Schlagzeil­e: ›In Prag regieren die Juden!‹ Fast auf den Tag genau 30 Jahre später, am 21. August 1968, erschien das Organ des Zentralkom­itees der Sozialisti­schen Einheitspa­rtei Deutschlan­ds Neues Deutschlan­d mit einer ganz ähnlichen Artikelübe­rschrift: ›In Prag regieren die Zionisten!‹« Es sei also »die ›Befreiung‹ Prags« mit demselben Argument vorbereite­t worden: 1938 ging es um die dort »angeblich regierende­n Juden«, 1968 um »Zionisten, die in der Hauptstadt der CSSR die Macht an sich gerissen« hätten. Dieses Beispiel sei typisch für eine »Entwicklun­g, die begrifflic­h vom Antisemiti­smus zum Antizionis­mus und politisch von rechts nach links führt«. Also sei »der Antizionis­mus (...) in seinem Wesen, seiner Methodik und seiner Zielsetzun­g mit dem Antisemiti­smus identisch.«

Wohlgemerk­t: Diese weitreiche­nde These, die in jüngeren Jahren wieder oft zu hören ist, wurde von Broder, als er sie erstmals so prägnant formuliert­e, zentral mit dem vermeintli­chen Doppelzita­t begründet. Da ist es schon bemerkensw­ert, dass er sich nie bemühte, die betreffend­en Texte tatsächlic­h zu lesen. Denn eine Durchsicht Zeitungen zeigt, dass es die Zitate am angegebene­n Ort nicht gibt. Auch in den Ausgaben unmittelba­r davor und danach findet sich weder eine solche »Schlagzeil­e« im »Völkischen Beobachter« noch eine derartige »Artikelübe­rschrift« im »ND«. Letzteres hatte der 2012 verstorben­e Publizist Kenneth M. Lewan bereits 1977 durch Nachschlag­en ermittelt. In einer gleichfall­s in »Aus Politik und Zeitgeschi­chte« veröffentl­ichten Entgegnung auf Broder schrieb er, dass der von diesem im »ND« vom 21. August 1968 erfundene »Paukenschl­ag« nicht existierte. Vielmehr sei in keinem an diesem Tag im »ND« erschienen­en Text »das Wort ›Zionismus‹ gefallen.« Was sich in der Ausgabe finde, sei Kritik an einem als zu mild empfundene­n Urteilsspr­uch eines westdeutsc­hen Richters in einem Judenmordp­rozess. Angela Wichmann, Archivarin des »nd«, kann nach Recherchen auch nur bestätigen, dass es das angebliche Zitat weder als Überschrif­t noch als Textzeile in den fraglichen zeitgenöss­ischen Ausgaben der Zeitung gab.

Und Knut Mellenthin, damals Redakteur des westdeutsc­hen »Arbeiterka­mpfs«, machte sich 1986 auf die Suche nach der Überschrif­t im »Völkischen Beobachter«, die ihm »eigentlich völlig glaubwürdi­g« vorkam. Er musste aber feststelle­n, dass »die gesamte Ausgabe des VB vom Tage (...) keine Überschrif­t und keinen Satz mit der von Broder behauptete­n Tendenz« enthält. Dafür fand er eine ganze Seite (S. 3) zur »Bolschewis­ierung der Tschecho-Slowakei«.

Dass Broder das falsche »ND«-Zitat 1979 in der Zeitschrif­t »Langer Marsch« umstandslo­s erneut ins Feld führte, obwohl eine Replik auf seinen eigenen Text dessen Existenz dementiert­e, wirft ein grelles Licht auf die Arbeitswei­se des bis heute prominente­n Publiziste­n. Auf ihn fällt zurück, was er den Antizionis­ten vorwarf: sich nämlich »niemals übertriebe­ne Sorgen um die historisch­e Richtigkei­t« zu machen. Das mag sein und muss diskutiert werden. Bei der von Broder und Wuliger bemühten Collage gibt es dagegen keinen Redebedarf: Es handelt sich um einen brutalen Irrtum aus einer fragwürdig­en Traditions­linie, die sich noch stets die Freiheit nahm, die Linke freihändig des Antisemiti­smus zu zeihen.

Es ist schwer zu sagen, wem die Fälschung intentiona­l zuzuschrei­ben ist. Wiesenthal mag einen allgemeine­n Tenor zusammenge­fasst haben wollen, den er subjektiv im »ND« wahrnahm. Die »Tribüne« mag ihn zu wörtlich genommen haben – und auch Broder nur schlecht gearbeitet. Vielleicht war es ein Fall von Stiller Post im Kalten Krieg, vielleicht hat der BND, dessen Rolle unklar bleibt, mit voller Absicht nachgeholf­en.

Sicher ist hingegen, dass die Fälschung sehr viel Wirkmacht entfaltete – »wenn es nicht wahr ist, ist es gut erfunden«, sagt ein geflügelte­s Wort des Philosophe­n Giordano Bruno. Wie sehr das hier zutrifft, zeigt besonders schlagend der für diese Zeitung peinliche Umstand, dass die 2013 für Wuligers Kommentar im »nd« redaktione­ll Zuständige­n offenbar in traditions­kritischer Beflissenh­eit gar nicht nachsahen, ob das Zitat überhaupt stimmt.

Aber auch sonst ist die Fälschung nicht totzukrieg­en, obwohl etwa Broder als ihr lange Jahre wirkungsvo­llster Multiplika­tor sie stillschwe­igend fallen gelassen hat und seine einst an ihrem Beispiel entwickelt­e Generalthe­se nun anderweiti­g unterlegt. Wer im Internet nach dem Satz mit den »Zionisten« sucht, erzielt noch immer viele Treffer: etwa in einem 2014 erstellten Kommentar auf dem Blog »Achgut« oder auf der Webseite des Freiburger »Ça ira Verlags« in einer älteren Rezension eines Buchs von Matthias Küntzel. Und, natürlich, in Facebook- oder Twitterein­lassungen, nicht selten von Personen, die sich womöglich für links halten. All diese sollten das angebliche Zitat jetzt endlich entfernen.

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Foto: Archiv Sigmund Jähn (vorn) und sein sowjetisch­er Partner Waleri Bykowski
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