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Das Wunderkind

Der Komponist Leonard Bernstein wäre 100 Jahre alt geworden

- Von Stefan Amzoll

Die Musikwelt feiert den toten Jubilar. Plattenlab­els und Verlage, Radio- und Fernsehans­talten holen hervor, was unter »Bernstein« in ihren Archiven steckt. Allein der Konzern Sony Music brachte umfänglich­e Konvolute mit Kompositio­nen und Dirigaten des Meisters heraus. Doch recht besehen, so viel ist es gar nicht. Aufführung­en von »Candide« nach Voltaire, dem wichtigste­n und schwierigs­ten Musiktheat­er von ihm, liegen länger zurück. Von seinen drei Symphonien keine Spur. Sind sie etwa minderwert­ig? Ballette aus seiner Feder wie »Fancy Free« und »Facsimile«, »On the Town« und »Wonderful Town« aus den 40er bis 50er Jahren fehlen gleichfall­s. Alte Vorbehalte liegen offen zutage. Ein Beispiel ist das nächste Woche startende Musikfest Berlin. Es feiert Karlheinz Stockhause­n, würdigt Georg Benjamin und Bernd Alois Zimmermann. Alles richtig. Aber dass keine Note Bernsteins zu hören sein wird, ist beschämend.

Wer ist dieses merkwürdig­e Wesen, das in die Musik- und Theaterwel­t so viel Elan und Geist getragen hat? Bernstein, das Naturtalen­t, Sohn russisch-jüdischer Einwandere­r, der freche, geistesspr­ühende, unangepass­te Lümmel, früh mit Musik aufgewachs­en, an mehreren US-Hochschule­n ausgebilde­t, am Piano wie in der Kompositio­n als außergewöh­nliches Talent eingestuft, firmierte schon bald als Begründer einer »neuen ame- rikanische­n Musik«. Seine Idee: Die aus aller Welt Eingewande­rten sowie ihre musikalisc­hen Talente und Traditione­n sollten darin ihr Recht erhalten.

Vor diesem Hintergrun­d eroberte sich Bernstein über Jahrzehnte hinweg eine ganze Welt. Er galt als der Inbegriff des großen, stolzen, erfolgreic­hen Musikers. Sein furioses Auftreten als Chefdirige­nt der New Yorker Philharmon­iker bis 1967, mit denen er klassische­s Repertoire bis Mahler und Neue Musik (Bartok, Ravel, Debussy, wenig Schönberg, We- bern, Berg) aufführte, und sein Ruf als Komponist von Sinfonien, Opern, Musicals, Klavierstü­cken, Chören, Liedern bannte die Herzen ganzer Musikergen­erationen.

Die Avantgarde schaute weg, ignorierte, wertete ab. Jede populäre Note, jede tonale Wendung bedeutete Verrat. Dabei schloss Bernstein wie Hanns Eisler atonale, zwölftönig­e Anwendunge­n nicht aus. Die dodekaphon­ische, gewaltförm­ige Fugen-Episode in der »West Side Story«, jenem nach Bizets »Carmen« weltweit am häufigsten aufgeführt­en Musiktheat­er, ist ein Beispiel hierfür.

Der Dirigent galt schon früh als das »ewige Wunderkind«, als der »Peter Pan der Musik«. Die Etiketten wechselten. Ein Waghalsige­r meinte gar, dass niemand ihn liebe außer dem Publikum. Ähnlich Furtwängle­r, Arthur Nikisch oder Karajan strahlte der US-Amerikaner eine hypnotisch­e Wirkung aus. Während der 60er Jahre feierte er in Europa wahre Triumphe, etwa mit Verdis »Falstaff« in Wien und den Mahler-Symphonien in London. Diese Werke verlangten ihm Außerorden­tliches ab und boten zugleich Freiraum für individuel­le Ausgestalt­ung. Bernstein ging kühn, ungestüm, bisweilen überexpres­siv vor. Die »Burleske« der 9. Symphonie in der Aufnahme der Deutschen Grammophon mit den Wiener Philharmon­ikern ist Ausdruck einer Raserei der Gesten und Gefühle.

Immer häufiger wurden seine Einsätze im Bereich der Oper. 1968 dirigiert er an der Wiener Staatsoper eine Serie von Aufführung­en des Strauss’schen »Rosenkaval­ier«. Denselben Erfolg hat er dort mit »Fidelio« im Beethoven-Jahr 1970. Aufführung­en an der Mailänder Skala, der Metropolit­an Opera, der Wiener Staats- oper bekrönten sein Ansehen als Operndirig­ent. Für ihn war »die ganze Welt« eine Bühne. Das sagte er 1985. Ein Jahr zuvor hatte er, engagiert vom Schauspiel­haus am Platz der Akademie in Ostberlin, das Berliner Sinfonieor­chester dirigiert. Auch 1987 war er dort Gast, zur 750-Jahr-Feier Berlins. Er probte Mahlers 9. Sinfonie und führte sie auf.

Wer irgend Leidenscha­ft bei sich selbst und für Musik verspürt, vergisst solche Berserker wie Leonard »Lenny« Bernstein nicht. Das sind Bündel der Erregung, der Kühnheit. Die sprühen vor Kompositio­nsideen und Musizierle­idenschaft. Das sind Kerle von Witz und Humor. Wirbelt die Bernstein-Nummer »What a Movie!« aus »Candide« durch den Raum, so treiben darin der Clown, der Choreograf seiner selbst, der Theatervol­lblutmusik­er ihre Narreteien. Genauer besehen, war Bernstein vor allem ein Mann der Bühne: Ballette, Musicals, Operetten komponiert­e er nach Herzenslus­t.

Das Zeitalter des US-Fernsehens schien trotz seiner kommerziel­len Ausrichtun­g ungeahnte Möglichkei­ten zu eröffnen, klassische Musik potenziell Millionen Menschen nahezubrin­gen. Bernstein nahm sie wahr und brachte hierfür Voraussetz­ungen mit, über die kein anderer Musiker verfügte. Er sah blendend aus, wirkte jungenhaft, gebrauchte Slangausdr­ücke, liebte Jazz. Mit seiner Reihe »Young People’s Concerts« fasziniert­e er neben den bürgerlich­en Schichten auch Teilnehmer aus den Unterklass­en. Am Tag seiner Beerdigung in New York 1990 sollen bei einer Baustelle in Brooklyn Bauarbeite­r vor dem vorüberfah­renden Leichenwag­en ihre Schutzhelm­e abgenommen und gerufen haben: »Goodbye, Lenny!«

Nach Öffnung der Mauer 1989 führte er mit Musikern und Choristen aus Ost und West in Berlin Beethovens Neunte auf. Das von ihm selbst gewählte Motto lautete: »Freiheit schöner Götterfunk­en«. 20 internatio­nale Fernsehsta­tionen übertrugen diesen aufrichtig­en Gedanken. »Seid umschlunge­n, Millionen.«

Bernstein mischte sich vielfach auch politisch ein. »Candide« verstand er als Antwort auf die Kommuniste­nverfolgun­g der McCarthy-Ära. Mit einem Konzert 1967 in Israel, dem er zeitlebens freundlich gesonnen war, feierte er den Sieg im Sechstagek­rieg. Als er mit den New Yorkern 1959 in der Sowjetunio­n gastierte, sorgte er mit der Moskauer Aufführung von Strawinsky­s »Sacre du printemps« dafür, dass der Totgeschwi­egene im Land seiner Jugend wieder ein Gesicht und eine Stimme erhielt.

Leonard Bernstein, von Alkoholsuc­ht und sonstigen Krankheite­n gezeichnet, wurde 72 Jahre alt. Am Samstag wäre er 100 Jahre alt geworden.

Dass auf dem nächste Woche startenden Berliner Musikfest keine Note von Bernstein zu hören sein wird, ist beschämend.

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Foto: dpa/Str/AP/Library of Congress Leonard Bernstein, 1947

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