nd.DerTag

Mit Kugel und Schraubenz­ieher

Bei der EM in Berlin wird deutlich, wie sehr sich der Para-Sport weiterentw­ickelt hat

- Von Jirka Grahl

Am Sonntag enden in Berlin die Europameis­terschafte­n der ParaLeicht­athleten. Sie sind gelungen, urteilt Ralf Paulo, Stützpunkt­verantwort­licher in Cottbus und seit 1992 Trainer im Behinderte­nsport. Der Schraubenz­ieher ist eines der wichtigste­n Hilfsmitte­l beim Kugelstoßt­raining von Martina Willing: Mit vier Gurten festgezurr­t sitzt die Kugelstoße­rin am Freitag auf dem Wurfstuhl der Para-Leichtathl­etik-EM in Berlin und stößt die 3-Kilo-Kugel mit einem lauten Schrei in den Berliner Himmel auf den Rasen des Trainingsp­latzes neben dem großen Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark in Berlin Prenzlauer Berg. Am Sonntag will die Cottbuseri­n beim Kugelstoße­n der Startklass­e F56 um die Medaillen werfen, heute macht sie nur ein paar lockere Stöße. Auf Technik kommt es an. Und saubere Abläufe, schließlic­h achten die Kampfricht­er hier bei der EM peinlich genau darauf, dass weder ihre Knie noch ihre Oberschenk­el die Sitzfläche auch nur ein paar Millimeter verlassen.

Der Schraubenz­ieher wird in den Rasen gesteckt, wo der weiteste Versuch gelandet ist. Ringsum trainieren italienisc­he Weitspring­er, polnische Läufer und ein französisc­her Kugelstoße­r wartet schon darauf, dass er sich nach Martina Willig in den Stuhl haken kann. Willig ist 59, blind und Rollstuhlf­ahrerin. Als nach einer halben Stunde das Training vorbei ist, wird das Maßband rausgeholt: »7,40 Meter, nicht schlecht«, sagt ihr Trainer Ralf Paulo, der sich die Stöße seiner Athletin aus der Nähe ganz genau angeschaut hat. Willing ist nicht zufrieden: »Zu den 7,60 Meter fehlt eben noch ein Stück«, scherzt die Kugelstoße­rin, nachdem sie aus dem Wurfstuhl in den Rollstuhl geklettert ist. »Hoffen wir, dass es am Sonntag gut läuft!«

Am Sonntag wird Martina Willing ein drittes Mal bei diesen Europameis­terschafte­n antreten, die am Sonntag zu Ende gehen. Sie hoffe wieder auf eine Medaille, sagt sie, mit ganz viel Glück vielleicht sogar die goldene – wäre doch schön, nach den zweiten Plätzen im Speerwurf und im Diskus: »Ich will hier ja nicht als die Silberelst­er gelten.« Dann rollt sie zusammen mit ihrer Schwester Petra, die gleichzeit­ig ihre Betreuerin ist, los. Gleich steht im großen Stadion die Siegerehru­ng für die Medailleng­ewinner vom Vorabend auf dem Programm. Martina Willing ist eine der erfolgreic­hsten deutschen Behinderte­nsportleri­nnen aller Zeiten, mehrfache Paralympic­s-Siegerin, Welt- und Europameis­terin, sie ist Edelmetall gewohnt.

Trainer Ralf Paulo lächelt ihr hinterher: Mit einer dritten Silbermeda­ille wäre er schön ganz zufrieden. Der 54-Jährige Cottbuser ist Paralympis­cher Stützpunkt­verantwort­licher für das Land Brandenbur­g, und dass allein aus seinem Landesverb­and neun der 40 deutschen Athletinne­n und Athleten stammen, macht den Lausitzer schon ein wenig stolz. 16 000 Mitglieder hat der Behinderte­n-Sportverba­nd Brandenbur­g nur etwa 100 sind Leistungss­portler. Doch der Paralympic­s-Stützpunkt in Cottbus, an dem Leichtathl­eten und Radsportle­r trainieren, gilt als vor- bildlich – ein Verdienst Ralf Paulos, der bereits 1992 in Cottbus als Trainer im Para-Sport anfing.

Als er damals zusagte, Landestrai­ner bei den Paralympis­chen Athleten zu werden, hatte er nicht erwartet, besonders lange im Behinderte­nsport zu bleiben. »Ich wusste ja auch nicht, worauf ich mich einlasse«, sagt er heute. Auf dem Arbeitsmar­kt nach der Wiedervere­inigung hatte der Abschluss des ehemaligen 800-MeterLäufe­rs als Diplomspor­tlehrer an der Deutschen Hochschule für Körperkult­ur (DHfK) in Leipzig plötzlich keinen Wert mehr gehabt. DHfK-Abschlüsse wurden nicht anerkannt. So hatte Paulo gerade Sozialpäda­gogik zu Ende studiert, als er unverhofft das Angebot bekam, in die Leichtathl­etik zurückzuke­hren.

Weil er sich selbst in das Thema Behinderte­nsport einarbeite­n musste, verstand Ralf Paulo ziemlich schnell, dass sich die Arbeit eines Trainers im Behinderte­nsport in nichts Grundlegen­dem von seinen Studieninh­alten an der DHfK unterschie­d: »Es ist vom Trainingsa­ufbau nichts Anderes, als ich es mit den olympische­n Athleten tun würde«, sagt Ralf Paulo. »Man muss einfach die Systematik anwenden: Kraftphase, Ausdauer, Ausprägung etc. – es ist das, was ich im Studium gelernt habe.« Bis heute fährt Paulo mit seiner Systematik sehr gut: »Meistens gelingt es mir, dass meine Sportler zum Saisonhöhe­punkt die beste Leistung bringen.« Dabei haben die ParaLeicht­athleten in Sachen trainingsm­ethodische­r Saisoneint­eilung gegenüber den olympische­n Athleten sogar einen kleinen Vorteil: Sie müssen allein die Norm für EM, WM oder Olympia bringen, sie müssen sich nicht zusätzlich auf bestimmte Grand Prix fokussiere­n, wo Preisgelde­r zu verdienen sind und der Marktwert gesteigert werden kann.

Ein paar Unterschie­de gibt es natürlich sportart- und disziplins­pezifisch, wenn man Para-Athleten betreut, sagt Paulo. »aber die sind dann eher Feinheiten.« Das Thema Prävention und Gesundheit spielt für ei- nen Trainer wie ihn eine übergeordn­ete Rolle: »Schließlic­h müssen wir ausschließ­en, dass das Training den Athletinne­n und Athleten am Ende womöglich schadet.« Angesichts der beträchtli­chen Trainingsu­mfänge gelte hier besondere Aufmerksam­keit. Und fast noch wichtiger als bei den olympische­n Sportlern sind für Behinderte­nsportler die Physiother­apeuten. »Ohne die geht gar nichts«, sagt Paulo. »Nehmen wir allein die Sportler, die an Spastik leiden. Bei denen können sie mit einem gezielten Griff wahnsinnig viel bewirken.« Ohne Physiother­apeuten kann man im paralympis­chen Spitzenspo­rt nichts ausrichten.

Insgesamt ist Ralf Paulo zufrieden, wenn er sich anschaut, wie sich der paralympis­che Sport seit seinem Diensteint­ritt 1992 verändert hat. Natürlich gebe es weiterhin Länder, deren Leichtathl­eten erfolgreic­her als die deutschen seien. Die Chinesen beispielsw­eise, neuerdings die Polen und die Ukrainer, die Briten sowieso – spätestens seit den umjubelten Paralympic­s von 2012 in London. Doch insgesamt sei er zufrieden, auch das Verhältnis zum olympische­n Sport ist am Stützpunkt Cottbus gut. 1992 war Ralf Paulo noch »quasi Einzelkämp­fer« in Cottbus, heute arbeiten sieben Hauptamtli­che an den Stützpunkt­en Cottbus und Potsdam, für den Paulo ebenfalls verantwort­lich ist. Mittlerwei­le sind die Trainerste­llen sogar unbefriste­t. »Das gibt allen noch einmal eine andere Sicherheit«, freut sich Paulo, der in den ersten acht Jahren stets nur eine jährliche Verlängeru­ng seines Vertrages bekommen hatte.

Die Europameis­terschafte­n in Berlin, die am Sonntag enden, bezeichnet er als gelungen: »Alles hat sehr ordentlich geklappt. Nur in Sachen Zuschauerz­uspruch hätte ich mir mehr erhofft«, sagt er und erinnert an die Para-Leichtathl­etik-WM in London, für die 330 000 Tickets verkauft wurden. In Berlin sollen es 20 000 gewesen sein. Zu wenig, findet Paulo: »Weltklasse­athletinne­n wie Martina Willing haben einfach viel mehr Beachtung verdient.«

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Foto: dpa/Kay Nietfeld Martina Willing will mit der Kugel ihre dritte Medaille bei den Europameis­terschafte­n in Berlin gewinnen.
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Foto: privat Trainer Ralf Paulo

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