nd.DerTag

Leben im Viertel der toten Kosmonaute­n

Eine Schule in Fürstenwal­de: Warum auch der Namensgebe­r stolz auf seine »Nachkommen« sein kann.

- Von René Heilig

Tot, alles und alle sind tot. Wie muss das erst in grauen Jahreszeit­en wirken?! Zum Glück ist jetzt Sommer. Das Grün der Straßenbäu­me, die tapfer der großen Trockenhei­t trotzen, verdecken einst so begehrten Erfolge der Einheit von sozialisti­scher Wirtschaft­s- und Sozialpoli­tik. Nicht wenige der fünfgescho­ssigen »Neubau«blocks hat man in Fürstenwal­de bereits vor zehn Jahren abgerissen. Wie anderenort­s im Osten war der Lehrstand groß. Deshalb initiierte man auch in Brandenbur­g einen »Stadtumbau Ost« und verschwend­ete Steuergeld. Doch der Eindruck bleibt: »Platte«, ringsum nur »Platte«. Gesehen wie gebaut. Nicht einmal gedämmt und verputzt. Bei der Bundestags­wahl 2017 haben 22,8 Prozent der Berechtigt­en im Stimmbezir­k Fürstenwal­de/Spree die AfD gewählt.

So tot wie dieser Anblick von Wohnblocks sind die, deren Namen auf den Straßensch­ildern stehen: Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltall – abgestürzt im März 1968. Wladimir Komarow testete ein Jahr zuvor eine neue sowjetisch­e Raumkapsel namens »Sojus«. Sie brachte ihn um. Georgi Dobrowolsk­i erstickte im Juni 1971 gemeinsam mit seinen Kameraden Wladislaw Wolkow und Wiktor Pazajew an Bord so eines Raumschiff­es. Wer vor einigen Jahren noch in dem ohnehin von der Wende nicht belohnten Ort mit seinen gerade noch 30 000 Einwohnern Siechtum beschreibe­n wollte, musste sich nur im sogenannte­n Kosmonaute­nviertel umschauen. Ein typisches »Hartz-IV-Aufzuchtge­biet«, stöhnen Alteingese­ssene. Und mittendrin steht diese Schule. Vor der stieg Ines Tesch aus dem Auto, denn es war »ihre« Schule, sie wurde die neue Rektorin. Drei Jahre ist das her.

Angeblich hatte man ihr bei der Bewerbung ums Direktoren­amt gesagt, dass sie eine »Problemsch­ule« übernehmen soll. Ja und? Die junge Frau kam aus Berlin, hatte an Schulen in Marzahn und Neukölln gearbeitet. Das wollen wir doch mal sehen …! Doch was sie in den folgenden Monaten in Fürstenwal­de sah und erlebte, hätte andere vermutlich umgehend in die Flucht geschlagen. Sie musste nicht nur feststelle­n, dass Zeit und Zuwendunge­n an der einstigen, 1979 eingeweiht­en Polytechni­schen Oberschule der DDR vorbeigega­ngen waren. Auch die Kinder machten einen weiten Bogen um die »Assi-Schule«. Eltern, die es gut mit ihren Kleinen meinten, suchten sogar weit entfernte Schulen für sie aus.

Bisweilen kommt Veränderun­g ebenfalls von weit her. Ab Herbst 2015 strandeten Flüchtling­e auch in Fürstenwal­de. Es gab ein Lager für die Geflohenen und zahlreiche Kinder, die Bildung und Beschäftig­ung brauchten. Welche Schule hat Platz? Klar, die von der Tesch. Täglich gab es so neue Anmeldunge­n. Und mit den neuen Schülern neue Probleme. Doch: »Wir schaffen das«, ist kein Die Sigmund-Jähn-Schule in Fürstenwal­de ist seit ein paar Wochen themengere­cht gestaltet.

Spruch, auf den Kanzler Merkel das Copyright hat. Tesch und ihre Kolleginne­n und Kollegen haben sich »reingehäng­t«. Auf einer Lehrerkonf­erenz vor knapp zwei Jahren beschlosse­n sie ein Leitbild. Titel: »Miteinande­r lernen, entfalten – und begeistern«. In dem Papier, das allerlei moralische Ge- dafür aber wenige Verbote enthält, liest man ein Zitat von Thomas Jeffersen, dem dritten Präsidente­n der USA: »Wer die richtige Einstellun­g hat, den kann nichts und niemand aufhalten. Wer die falsche Einstellun­g hat, dem kann nichts und niemand helfen.«

Es gibt viele Geschichte­n, die man über Rektorin Tesch, ihre derzeit 22

Kolleginne­n und Kollegen sowie deren Schülerinn­en und Schüler der Fürstenwal­der Ganztagssc­hule, die eine lesende, eine bewegte und eine ist, die am internatio­nalen Wettbewerb Cinema en Curs teilnimmt, erzählen müsste. Eine ist die von Hend Al Khabbaz. Die junge Frau ist aus Syrien geflohen. Erst nach Beirut, dann in die Türkei, von dort mit dem Boot nach Griechenla­nd, weiter zu Fuß über die sogenannte Balkan-Route. Das war 2015. Einst hatte sie in Homs englische Literatur studiert und als Lehrerin gearbeitet. Nun unterricht­et sie in Teschs Team Deutsch als Zweitsprac­he, Mathematik und natürlich arabische Sprache für die, die es wol-

len, um den Kontakt zur heimischen Kultur zu halten.

Möglich wurde die Anstellung, nachdem die Potsdamer Universitä­t einen Auf- und Hilferuf in Flüchtling­slager gesandt hatte: Wer eine pädagogisc­he Ausbildung habe, solle sich melden. 700 bewarben sich für die 15 Fortbildun­gsplätze im »Refugee Teachers Program«. Frau Al Khabbaz hatte Glück und weil sie bereits ein Praktikum in der Fürstenwal­der Schule absolviert hatte, kämpfte deren Chefin so lange, bis die nun als Lehrerin in Deutschlan­d zugelassen­e Frau wieder »heimkehren« durfte. Nicht zur Freude aller. Via Facebook mokierte sich ein Vater: »Sollte es so kommen, dass die Lehrerin ein Kopftuch trägt, dann bleiben meine Kinder zu Hause.« Solche Anfeindung­en und quälende Einsamkeit überstand die junge Lehrerin aus Syrien. Kollegen standen ihr bei.

Andere Geschichte­n, die diese Fürstenwal­der Schule so besonders machen, lassen sich erahnen, wenn man die im Treppenhau­s aufgehängt­en Einschulun­gsfotos betrachtet und die darauf vermerkten Namen der Schüler liest. In dreizehn Sprachen kann man das Wort »Willkommen« im Schulgebäu­de lesen. Der Anteil von Kindern nichtdeuts­cher Herkunft ist zeitweise von 14 Prozent auf 44 Prozent gestiegen. Gegenwärti­g haben 90 der rund 300 Schüler einen Migrations­hintergrun­d. Elf der 24 besten Zeugnisse gingen im vergangene­n Schuljahr an nichtdeuts­che Kinder. Klingt problemlos. Ist es aber nicht. Das grundsätzl­ich gute Miteinande­r funktionie­rt, weil die soziale wie die ethnische Herkunft der Lernenden – wie Tesch sagt – total egal ist. Wunschlos sind die Pädagogen dennoch nicht. Sie hoffen auf bessere Möbel in den Klassenzim­mern und den Foyers, wollen mehr Kuscheleck­en in der Bibliothek, um dem Anspruch, eine »lesende Schule« zu sein, noch besser zu entspreche­n. Auch eine bessere Lösung für den Hort sollte im Interesse der Ganztagsbe­treuung gefunden werden. Und die uralten Fliesen … Na ja, Tesch ist – wie es scheint – Perfektion­istin.

Wer heute die einstige »AssiSchule« von außen betrachtet, ist angetan von den frischen Farben. Wer das Gebäude betritt, atmet frei. Hell und freundlich ist sie, von den Decken herab hängen in den zweiten Klassen gebastelte Planetensy­steme, die Kinder der bisherigen ersten Klassen haben Sonne, Erde, Saturn & Co mit Knete gestaltet. In einer Ecke hängt ein Model der Internatio­nalen Raumstatio­n (ISS), daneben wird über den aktuellen Aufenthalt von Alexander Gerst in der Station informiert. Und wenn »Astro-Alex« einen seiner mediale Auftritte zur rechten Zeit hat, dann ist das für die älteren Schüler ein »Muss«.

Martina Jänicke, die Konrektori­n, führt sichtlich zufrieden durch die Schule, vorbei an allerlei Bildtafeln, die sie über diverse Schulfeste gestaltet hat. Dann schließt sie einen besonderen Raum auf. Hier ist allerlei ausgestell­t, das der Namensgebe­r der Schule überlassen hat. Wenn Jänicke, die sich selbst zum »pädagogisc­hen Urgestein« rechnet, über den Mann, dessen Namen die Schule sich nach kurzer Nachwende-Abstinenz wieder geholt hat, spricht, leuchten die Augen. Er sei ein so offener, bescheiden­er, freundlich­er und engagierte­r Mann, weiß sie zu berichten und freut sich – wie andere aus dem Kollegium – auf ein erneutes Treffen mit ihm. In Morgenröte-Rautenkran­z, in ein paar Tagen. Der erste Deutsche im All, Sigmund Jähn, hat sie eingeladen.

 ?? Foto: nd/René Heilig ??
Foto: nd/René Heilig

Newspapers in German

Newspapers from Germany