nd.DerTag

Völkerfreu­nd und Polarisier­er

Vor 50 Jahren gründete Tilman Zülch die Gesellscha­ft für bedrohte Völker.

- Von Reimar Paul

Ende der 1960er Jahre tobt in Ostnigeria, das sich als Republik Biafra für unabhängig erklärt hat, ein blutiger Bürgerkrie­g. Hunderttau­sende Menschen sterben durch Bomben, an Hunger und Krankheite­n. Die Weltöffent­lichkeit wird durch Fernsehbil­der von Kindern mit aufgebläht­en Bäuchen aufgeschre­ckt. Weil Großbritan­nien das nigerianis­che Militär mit Waffen beliefert, besetzen im Sommer 1968 Mitglieder des Komitees »Aktion Biafra Hilfe« das britische Generalkon­sulat in Hamburg.

Mit dabei ist Tilman Zülch, Student der Volkswirts­chaft und Politik. Er stammt aus Deutsch-Liebau (Libinau) im Sudetenlan­d (Nordmähren), hat sich als Jugendlich­er in der Bündischen Jugend und in Hamburg im Sozialdemo­kratischen Hochschulb­und engagiert. Die Besetzung des Konsulats habe den britischen Botschafte­r mehr geschockt »als das Sterben im Hungerkess­el von Biafra«, erinnert sich der heute 79-Jährige an die damalige Aktion. Zülch baut das Biafra-Komitee in der Folgezeit zur Gesellscha­ft für bedrohte Völker (GfbV) aus: Einer Organisati­on mit dem Anspruch, weltweit Menschenre­chte von ethnischen und religiösen Minderheit­en zu schützen und durchzuset­zen.

Unterstütz­t von einer Handvoll ehrenamtli­cher Helfer bleibt Zülch zehn Jahre lang der einzige Vollzeit-Aktivist. Zunächst mit wenig Geld, prangert die Gesellscha­ft für bedrohte Völker in Flugblätte­rn Gräueltate­n in Afrika und Asien an. »Von strukturie­rter Arbeit«, so die langjährig­e Redakteuri­n der GfbV-Zeitschrif­t »pogrom«, Yvonne Bangert, »konnte damals nicht die Rede sein«.

Heute werden profession­ell Kampagnen organisier­t. In der Göttinger Geschäftss­telle sind rund zwei Dutzend Frauen und Männer beschäftig­t. Rund 6000 Förderer und Mitglieder unterstütz­en die Gesellscha­ft durch Beiträge und Spenden. 2016 betrugen die Einnahmen knapp 1,3 Millionen Euro. Es gibt Regionalgr­uppen in 15 deutschen Städten und Sektionen in Österreich, der Schweiz, in Italien, Bosnien-Herzegowin­a und im irakischen Kurdengebi­et.

Mit spektakulä­ren Aktionen schaffen es die Menschenre­chtler mit Generalsek­retär Zülch an der Spitze immer wieder in die Schlagzeil­en. 1988 decken sie die Mitverantw­ortung deutscher Firmen beim Giftgasein­satz gegen Kurden in Irak auf. 1992, im sogenannte­n Kolumbus-Jahr, überqueren zwei Aktivisten den Atlantik mit einem Bambusfloß, um südamerika­nischen Indigenen eine Versöhnung­sbotschaft zu überbringe­n. 1995, vor der Hinrichtun­g des nigerianis­chen Bürgerrech­tlers Ken Saro-Wiwa im Ölförderge­biet, demonstrie­rt die GfbV vor der Shell-Zentrale in Hamburg mit Galgen-Attrappen. Unter dem Motto Tilman Zülch »Auf keinem Auge blind« setzt sich die Menschenre­chtsorgani­sation für Völkermord­opfer in Sudan und muslimisch­e Uiguren in China, für bedrängte Christen in Pakistan und für Kurden in der Türkei und in Irak ein. Und für Volksgrupp­en, »von denen keiner spricht«, so der Titel eines der von Zülch herausgege­benen Bücher.

Dabei muss die GfbV bisweilen auch Kritik einstecken. Als sie Anfang der 1980er Jahre indigene Miskito aus Nicaragua nach Europa einlädt, die gemeinsam mit US-finanziert­en »Contras« die sandinisti­sche Befreiungs­front FSLN bekämpfen, protestier­en Dritte-Welt-Gruppen. Im Jugoslawie­n-Krieg werfen Friedensin­itiativen der Gesellscha­ft für bedrohte Völker ein einseitige­s und polarisier­endes Engagement vor – früh- zeitig hat sie die Serben als Alleinschu­ldige des Konflikts gebrandmar­kt und Militärsch­läge der NATO zugunsten der bosnischen Muslime und Kosovo-Albaner gefordert. Pazifistis­che Positionen, so Zülch damals, kämen der Beschwicht­igungspoli­tik gegenüber Hitler vor Beginn des Zweiten Weltkriege­s gleich.

1980 ist Zülch Mitgründer der Grünen in Göttingen, er tritt ein Jahr später wegen eines vermeintli­chen Linkskurse­s der Partei wieder aus. Von 1985 bis 1989 wird er mit einem DDR-Einreiseve­rbot belegt. Dass er sich schon früh für ein Zentrum gegen Vertreibun­gen engagiert, ruft linke Demonstran­ten auf den Plan. Ihnen hält Zülch entgegen: »Ihr seid auf einem Auge blind.«

Zülch erhält für sein Engagement zahlreiche Preise, darunter den Göttinger Friedenspr­eis, den Europäisch­en Bürgerrech­tspreis der Sinti und Roma und das Bundesverd­ienstkreuz. 1999 schreibt der HolocaustÜ­berlebende und Publizist Simon Wiesenthal an Zülch: »Sie haben eine Organisati­on mit gegründet und aufgebaut, die allen Menschen, die sich bedroht fühlen, eine Anlaufstel­le für Hilfe bedeutet, mag die Bedrohung gegen Einzelpers­onen oder Gruppen gerichtet sein.«

Intern beklagten Mitarbeite­r und ehrenamtli­che Vorstandsm­itglieder gelegentli­ch ein autoritäre­s Regiment des Generalsek­retärs. 2012 eskalierte ein Streit um angeblich nicht belegte Zuweisunge­n und zu unrecht bezogene Gehälter in Strafanzei­gen und dem Ausschluss von zwei Vorständen des Trägervere­ins. »Ein Drittel unserer Arbeitszei­t verbringen wir gerade mit einer Art internem Bürgerkrie­g«, sagt Zülch damals. Über Monate kommunizie­ren er und seine Widersache­r nur über Anwälte miteinande­r.

Im Frühjahr 2017 gibt Zülch die Leitung der GfbV ab. Nachfolger wird ein Vertrauter: Der Asien- und Afrika-Experte Ulrich Delius. Als Berater für Kampagnen will Zülch der Gesellscha­ft verbunden bleiben.

Im Jugoslawie­n-Krieg werfen Friedensin­itiativen der Gesellscha­ft für bedrohte Völker ein einseitige­s und polarisier­endes Engagement vor.

 ?? Foto: dpa/Bodo Marks ??
Foto: dpa/Bodo Marks

Newspapers in German

Newspapers from Germany