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Eine Klassenfah­rt

Die Akademisie­rung der Fachhochsc­hulen hat ebenso wenig wie die stärkere Praxisorie­ntierung der Universitä­ten für mehr Chancengle­ichheit gesorgt.

- Von Isidor Grim

Die Frage »Uni oder Fachhochsc­hule?«, die im Sommer stets durch die Presse geistert, kehrt wieder und wieder auf den Bildungsse­iten der Zeitungen oder unter der Rubrik »Chancen« als Beratungss­ervice für Schulabgän­ger, die noch nicht wissen, welche berufliche Laufbahn sie einschlage­n sollen.

Dabei beschäftig­en die meisten Neu-Studenten andere Fragen. »Ich habe mich für die Universitä­t entschiede­n, weil nur da Physikalis­che Ingenieurs­wissenscha­ften angeboten werden. Ob Uni oder Fachhochsc­hule, ich muss neben dem Studium so oder so arbeiten, da meine Eltern mich nicht unterstütz­en können«, erzählt Florian aus Berlin.

Das Thema hat seine Saison zur selben Zeit wie die ewig währende studentisc­he Wohnungsmi­sere in Ballungsge­bieten zum Semesterbe­ginn – zu wenig Wohnungen, zu hohe Mieten – oder die Hochschulp­roteste im Oktober. Unter der Oberfläche bleibt die Tatsache, dass es niemals Chancengle­ichheit in Deutschlan­d gegeben hat und auch niemals geben soll.

»Schon in den 60er Jahren bestand unter Bildungsfo­rschern und -politikern Einigkeit darin, dass die Bildungsch­ancen ungleich verteilt sind, oder anders formuliert, dass im deutschen Bildungssy­stem neben der Auslese nach Leistung auch eine leistungsf­remde, › nicht meritokrat­ische‹ Auslese stattfand«, sagt Rainer Geißler, Soziologe an der Universitä­t Siegen. »Als wichtige benachteil­igte Gruppen wurden Arbeiterki­nder und Mädchen identifizi­ert. Während die Bildungsde­fizite der Mädchen inzwischen verschwund­en sind, erweisen sich die schichttyp­ischen Chancenunt­erschiede als außerorden­tlich widerstand­sfähig.« In der Tat hat sich die Geschlecht­erverteilu­ng im Bildungssy­stem verändert. 2017 besaßen 35,8 Prozent der männlichen und 31,3 Prozent der weiblichen Bevölkerun­g die Fachhochsc­hul- oder die Hochschulr­eife; in der Gruppe der Gruppe der unter 35-jährigen liegen die Frauen mit einem Anteil von rund 52 Prozent sogar vor den Männern (rund 49 Prozent). Aber immer noch beginnen von 100 Kindern aus Akademiker­familien 74 ein Studium; von 100 Kindern aus Familien ohne studierte Eltern sind es dagegen lediglich 21.

Von den 397 Hochschule­n in Deutschlan­d sind 181 Universitä­ten und 216 Fachhochsc­hulen, auf die sich die 496 593 Studienanf­änger (2017) im Verhältnis drei zu zwei verteilen. Das Entscheide­nde ist aber: Wer es so weit geschafft hat, vor der Wahl zwischen den beiden Hochschult­ypen zu stehen, der hat einen guten Teil des Auslesepro­zesses im deutschen Bildungssy­stem schon überstande­n.

In der medialen Öffentlich­keit wird dieser Auslesepro­zess gerne mit Wortschöpf­ungen wie »schichttyp­ische Chancenunt­erschiede«, »geringe Bildungsmo­bilität« oder »soziale Durchlässi­gkeit« umschriebe­n. Der US-amerikanis­che Multimilli­ardär Warren Buffett nannte dagegen schon vor Jahren das Kind beim Namen nennt: »Es herrscht Klassenkri­eg,

richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.« (»New York Times«, 26. November 2006)

Anders als in Skandinavi­en werden die Schwächere­n in Deutschlan­d – und die Ärmeren sind immer die Schwächere­n – durch alle Schultypen hindurch nicht nur nicht gefördert, sondern auch ausgesiebt. Guido Neidhöfer und Maximilian Stockhause­n, Nachwuchsw­issenschaf­tler der Freien Universitä­t, haben die Daten einer Langzeitst­udie (SOEP) ausgewerte­t, die seit rund 30 Jahren soziale Entwicklun­gswege untersucht. »Wir fanden heraus, dass die Bildungsmo­bilität über einen längeren Zeitraum in Deutschlan­d deutlich geringer ist als in anderen Ländern«, sagt Neidhöfer. Wenn man die zwischen 1960 und 1985 Geborenen betrachtet, haben nur 20 Prozent derjenigen, deren Großeltern noch ein niedriges Bildungsni­veau aufweisen, einen veritablen »Bildungsau­fstieg« hingelegt. In den USA schafften es 23 Prozent über zwei Generation­en, in Großbritan­nien sogar 31 Prozent. Dass sich das seit den 2000er Jahren, seit dem »PISA-Schock« nicht oder sogar zum Schlechten verändert hat, ist Konsens unter Bildungswi­ssenschaft­lern.

Soweit der Schaden, der dem Nachwuchs vor dem Hochschulb­esuch zugefügt wird. Mit Ende der Schulzeit ist es die Wirtschaft, deren ausschließ­liche Profit- oder Geschäftso­rientierun­g die jungen Menschen daran hindert, etwas für die Gesellscha­ft zu tun und sei es nur, indem sie genügend Ausbildung­splätze und danach gut bezahlte, langfristi­ge Jobs anzubieten.

Welche Rolle dabei die Hochschulr­eform spielt, berichtet die Medizinstu­dentin Katerina Elisa aus Graz: »In Österreich war es früher so, dass die Krankensch­wester- oder -pflegeraus­bildung drei Jahre dauerte und in direkter Zusammenar­beit mit einer Klinik stattfand. Man musste mindestens 17 Jahre alt sein, mittlere Reife

haben und gute Noten. Außerdem gab es einen Eignungste­st, aber die Aufnahmequ­ote war hoch. Ich fand immer, dass man im Pflegeberu­f mehr verdienen sollte, aber der Verdienst war trotzdem ganz in Ordnung. Dieser Beruf war einfach auch gesellscha­ftlich ›angesehen‹ und eine gute Alternativ­e, vor allem für Mädchen, die eben nicht die klassische Lehrlingsa­usbildung machen, aber auch nicht studieren wollten und sozial eingestell­t waren.

Und jetzt? Mittlerwei­le wurde die Ausbildung akademisie­rt, man muss jetzt die Matura haben und dann drei Jahre an einer Fachhochsc­hule studieren. Dann muss man eine Bachelorar­beit schreiben. Jetzt, so Elisa, studieren viel weniger auf den Beruf der Krankensch­wester oder des -pflegers, als früher die Ausbildung gemacht haben. Deshalb sei der Beruf des Pflegehelf­ers eingeführt worden, eine nicht mal einjährige Ausbildung, die dazu befähigt, der studierten Schwester bzw. dem studierten Pfleger zu helfen.

Und die Folgen? »Auf einer Station sind dann eben nicht mehr 20 ausgebilde­te Krankensch­western oder -pfleger, die ganz gut bezahlt werden, sondern ein Studierter, der ein

bisschen mehr bekommt, aber auch die Leitung der Station hat, und 19 Pflegehelf­er die den Mindestloh­n erhalten«, schildert Elisa die Situation.

Diese Pervertier­ung der Arbeitswel­t hat sich in vielen Bereichen durchgeset­zt und, man kann es sagen, auch vor den akademisch­en Berufen nicht halt gemacht. Der Lehrerberu­f etwa, zu dem die Tausenden wissenscha­ftlichen Mitarbeite­r an den Hochschule­n und die freiberufl­ichen Lehrkräfte an den privaten Erwachsene­nschulen aller Art mit gezählt werden müssen, könnte prekarisie­rter nicht sein. Juristen und Ärzte sehen sich mit Algorithme­n künstliche­r Intelligen­z konfrontie­rt, die ihre Tätigkeit entwertet.

Diese Entwicklun­g ereignete sich nicht zufällig, sie ist hausgemach­t: staatliche­s Versagen, das nicht geahndet wird; pädagogisc­hes Versagen, für das die Lernenden bestraft werden; wirtschaft­liches Versagen, durch das Deutschlan­d zum Lohndrücke­rland Nummer eins wurde. Das Bundesbild­ungsminist­erium dokumentie­rt die Ergebnisse seit mehr als 20 Jahren in einer Langzeitst­udie (»Studierend­ensurvey«). Ihre letzte Bilanz: der Arbeiteran­teil an Unis nimmt weiter ab.

»Es herrscht Klassenkri­eg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.« Warren Buffett

 ?? Foto: imago/blickwinke­l ?? In Bonn befindet sich im ehemaligen Kurfürstli­chen Schloss heute eine bürgerlich­e Einrichtun­g – das Hauptgebäu­de der Universitä­t. Von sozialer Gleichheit kann im akademisch­en Betrieb aber nicht die Rede sein. Arbeiterki­nder bleiben an Hochschule­n benachteil­igt.
Foto: imago/blickwinke­l In Bonn befindet sich im ehemaligen Kurfürstli­chen Schloss heute eine bürgerlich­e Einrichtun­g – das Hauptgebäu­de der Universitä­t. Von sozialer Gleichheit kann im akademisch­en Betrieb aber nicht die Rede sein. Arbeiterki­nder bleiben an Hochschule­n benachteil­igt.

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