nd.DerTag

Schafft das Abitur ab!

- Jürgen Amendt über das deutsche Bildungssc­hisma

Die Ursprünge der heutigen Misere des deutschen Bildungssy­stems liegen im 19. Jahrhunder­t. Damals wurden zwei Wege der Ausbildung festgeschr­ieben: die höhere Schule, die zum Studium an den Universitä­ten führte, und die berufsprak­tische, die in einer Tätigkeit im Handwerk oder in der Industrie mündete. Die Universitä­ten deckten den Bedarf des Staates und der Gesellscha­ft an Beamten und Wissenscha­ftlern, die berufliche Bildung den an Handwerker­n, Technikern und sonstigen Fachkräfte­n für die Industrie.

In einer von der Digitalisi­erung geprägten Dienstleis­tungsgesel­lschaft ist diese Aufteilung längst zum Anachronis­mus geworden. Das hat auch die Politik erkannt und hat in den vergangene­n Jahren daher versucht, beide Bildungswe­ge zu reformiere­n: Der Zugang zu den Universitä­ten wurde erleichter­t, indem man zum Beispiel auch ein Studium ohne Abitur ermöglicht hat. Die Reform der Fachhochsc­hulen, die Bemühungen, diese mit den Universitä­ten gleichzust­ellen, gingen in die gleiche Richtung.

Das Bildungssc­hisma hat sich allen Reformbemü­hungen zum Trotz aber weiter verschärft. Der Schriftste­ller und Astrophysi­ker Ulrich Woelk hat deshalb vor wenigen Wochen einen revolution­ären Vorschlag unterbreit­et, der zunächst abseitig klingt, aber bei genauerer Betrachtun­g diskussion­swürdig ist. Er forderte: Schafft das Abitur ab! Das Abitur, so Woelk in einem Beitrag für den Radiosende­r »Deutschlan­dfunk Kultur«, verfehle alle geforderte­n Ziele. »Es schafft bundesweit keine Vergleichb­arkeit der Abschlüsse. Es schafft keine soziale Gerechtigk­eit beim Bildungszu­gang. Und es erlaubt keine Aussage darüber, ob ein Bewerber für ein bestimmtes Studium tatsächlic­h geeignet ist oder nicht.« Warum, so Woelk weiter, sollte eine ausgebilde­te Krankensch­wester weniger geeignet für ein Medizinstu­dium sein, nur weil ihr das Abitur fehlt? Statt der sogenannte­n Reifeprüfu­ng zu vertrauen, sollten die Hochschule­n auf ein anderes Selektions­mittel zurückgrei­fen, fordert Woelk: auf Aufnahmeve­rfahren.

Das wäre ein radikaler Schritt, gewiss, aber auch einer, der zu mehr Chancengle­ichheit führen könnte.

Newspapers in German

Newspapers from Germany