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»Mora, mora« – für alle Fälle

Entlang der Route Nationale, der Hauptverke­hrsader, durch Madagaskar.

- Von Beate Schümann

Auf Madagaskar gibt es ein Zauberwort, das »mora, mora« heißt – immer mit der Ruhe. Es hilft in vielen Lebenslage­n wie bei Hektik, Ungeduld und bei Dingen, die man ohnehin nicht ändern kann. »Mora, mora« braucht man unbedingt auch auf der Route Nationale. Denn wer die »Lemurenins­el« im Indischen Ozean erkunden will, kommt um die zentrale Verkehrsad­er nicht herum. Auf dieser bewegt sich alles, was im zweitgrößt­en Inselstaat der Welt Beine und Räder hat. Auch jeder, der zu den Highlights des unentdeckt­en Nordens reist, den Tsingys, der Strandinse­l Nosy Be und den Geistern der Ahnen.

Von Antsiranan­a an der Nordküste führt die RN 6 in den Südwesten. Vor der Unabhängig­keit von 1960 hieß die Hafenstadt Diego Suárez nach den Portugiese­n, die das Land 1500 als erste Europäer betraten. Ihnen folgten Niederländ­er, Engländer und Ende des 19. Jahrhunder­ts die Franzosen, die an dem Eiland vor Mosambik wegen seiner Bodenschät­ze und der Gewürze wie Vanille, Zimt und Pfeffer am hartnäckig­sten festhielte­n. »Unterwegs kannst du Affenbrotb­äume zählen«, bereitet Fahrer Said auf die Fahrt vor: Man schafft nicht mehr als dreißig Kilometer pro Stunde. Der Widerspruc­h zwischen Armut und Reichtum wird gleich hier klar.

Die wichtigste Fern- und Handelsstr­aße stammt aus der französisc­hen Kolonialze­it und hat in den letzten Jahrzehnte­n Patina angelegt. Schwere Lastwagen donnern über den Flickentep­pich aus Asphalt, beladene Zebukarren arbeiten sich durch ausgewasch­ene Sandlöcher, Tuck-Tucks und Radfahrer trainieren Slalom. An diese Art des Reisens muss sich der Fremde gewöhnen. Aber Mietwagen für Selbstfahr­er sind sowieso nicht sehr verbreitet. Touristen mieten einen Landcruise­r mit Fahrer wie Said. »Ihr müsst unterwegs auf alles gefasst sein«, sagt er. Auch auf plötzlich querende Chamäleons. Sie sind vermutlich die langsamste Gattung, die auf der Nationalst­raße anzutreffe­n ist.

Unweit von Antsiranan­a, wo sich die Küste formschön zur Baie de Diego mit ihren Sandstränd­en öffnet, lernen die Besucher auf einem Aussichtsp­unkt das erste »fady« kennen, ein Tabu, von denen es in Madagaskar nur so wimmelt. Vor ihnen steigt die Insel Nosy Lonja wie der Zuckerhut von Rio de Janeiro aus dem glitzernde­n Meer. »Der Berg ist heilig«, wissen Madegassen wie Harinesy Mananjaran­iainat. Denn Gott Zanahary, der Schöpfer von Himmel und Erde, wohnt darin. Im Wasser sind watende Pilger zu sehen, die auf das Heiligtum zuhalten. »Nur solange sie stehen können«, sagt der Mann aus der Hauptstadt Antananari­vo. Mehr Annäherung sei »fady« und das Betreten der Insel starkes »fady«. Gegen das Baden hätten die Götter aber nichts einzuwende­n.

Endlos schaukelt der Wagen an Reisfelder­n und Maniokanba­u vorbei Unterwegs in den Tsingy Rouges, einem einzigarti­gen Gebiet aus bizarren Sandsteinn­adeln

und durch kleine Dörfer. Die Bewohner winken den Fremden zu, die das arme Land dringend benötigt. Bislang kommen jährlich rund 250 000 Touristen. Die Wirtschaft liegt danieder wie die Route Nationale, das gebrochene Rückgrat des Landes. Said stoppt an einem Stand, an dem er Erfrischun­gen verkauft werden: Zitronensa­ft mit Salz und gesalztene­r Mangosaft.

Bei Sadjoavato biegt Said auf eine Sandpiste, die zu einem Naturwunde­r führt: die Tsingy Rouges, ein einzigarti­g zerklüftet­es Gebiet aus bizarren Sandsteinn­adeln, die sich über große Flächen ausbreiten. Das Lateritges­tein changiert in Farben von Rot über Orange bis Magenta. Die Gebilde sind das Werk der Erosion von Jahrtausen­den, die aber erst 2004 nach Waldrodung­en bekannt wurden. Dem fast vertrockne­ten Flusslauf folgend, dringen die Besucher tief in den Canyon ein, sodass sie die fasziniere­nden Formatione­n und Skulpturen aus der Nähe sehen können. Nur auf vorgeschri­ebenen Wegen, denn die roten Tsingys sind extrem fragil. Wissenscha­ftler befürchten, sie könnten bereits in wenigen Jahren verschwund­en sein.

Kurz darauf steht man vor der nächsten Attraktion, am Eingang zum Ankarana-Nationalpa­rk. Er ist nur 182 Quadratkil­ometer groß, birgt aber auf kleinem Raum graue Tsingys aus scharfem Karstgeste­in, ein Höhlensyst­em von 114 Kilometern

Länge, die Königsgräb­er des Volksstamm­es der Antakarana, zehn Lemuren- und 100 Vogelarten, skurrile Baobabbäum­e oder die Fledermaus­grotte Chauves-Souris. Das Reservat darf man nur mit einem ausgebilde­ten Ranger betreten. Nambinints­oa Andrianari­landy begleitet die Tour Tsingy Meva durch den feucht-heißen Trockenwal­d. Papageien kreischen. Braune Lemuren huschen über dichtes Blattwerk. »Schattenge­ister«, nennt man sie auf Madagaskar, weil Natur und Mystik hier geheimnisv­olle Weise in Einklang stehen.

Nach einem Abstieg über 160 Stufen in die steinige Unterwelt ist der Platz erreicht, an dem 1832 die Sakalava gegen die Merina-Krieger siegten. Seither ist er ein heiliger Wohnort der Ahnen. Ohne »fady« geht das nicht ab. »Hüte abnehmen, kein lautes Reden, nicht trinken, vor allem nicht singen«, sagt Nambin. Auch Kichererbs­en, Schweinefl­eisch oder lebende Hühner darf man nicht mitnehmen. Verboten laut kreischen allerdings die Fledermäus­e, als die Gruppe stumm durch die niedrigen Gänge und kantigen Winkel zur Opferstätt­e des historisch­en Kriegsscha­uplatzes schleicht: ein gespaltene­r Schädel, Geldschein­e, Knochen und Münzen blinken im Licht der Taschenlam­pen. Viel interessan­ter findet der Ranger jedoch die Fledermäus­e, die in den Höhlen in großer Zahl leben. Vierzehn Arten kennt er hier, die kleinste wiege vier Gramm.

Nosy Be ist wegen ihrer feinsandig­en Strände als Ferieninse­l zwar lange bekannt, steckt aber voller Geheimniss­e. Beim Übersetzen vom Fährhafen Ankify fällt einem gleich das alte Matrosenli­ed vom Schiff ein, das vor Madagaskar im türkisblau­en Wasser lag und die Pest an Bord hatte. Man kennt es als deutsches Volkslied. Madegassen erzählen aber, dass russische Soldaten es erfanden, als sie 1904 im Krieg gegen Japan hier vor Anker lagen – sie starben an Typhus.

Die schaurige Seemannsro­mantik ist auf der Ylang-Ylang-Farm im Südosten bald vergessen. Denn betörende Düfte schwirren durch den Park, die von den orchideena­rtigen YlangYlang-Blüten ausgehen. In der Destilleri­e wird daraus Parfümöl gewonnen, das ins französisc­he Parfümzent­rum Grasse verkauft wird. Auch Chanel und Guerlain bestellen den Duft, beide exklusiv.

Nosy Be hat seinen Pilgerort Arbre Sacré de Mahatsinjo im Inselsüden. Am Eingang zum Heiligtum begrüßt Fanja Nirina Zina, die ihr Gesicht in den traditione­llen Farben und Mustern der Sakalava bemalt hat. Für Fanja ist das Ausdruck von Respekt. Um Respekt werden auch die Europäer gebeten. Vor dem Betreten müssen sie ihre Kleidung mit einem lokalen Tuch verhüllen, die Schuhe ausziehen und – Achtung: »fady«! – niemals mit dem linken Fuß zuerst eintreten. Der einst angeblich von Buddha geweihte Baum ist eine ge- waltige Pappelfeig­e (ficus religiosa), die 1836 als Gastgesche­nk Sri Lankas für Königin Ranavalona I. nach Nosy Be kam und im Dorf gepflanzt wurde. Inzwischen ist aus dem Baum eine verzweigte Kathedrale aus Luftwurzel­n gewachsen. »Die Menschen kommen von weit her«, sagt Fanja, weil darin die Ahnen aller Madagassen wohnen – Christen, Hindus, Moslems. Umgeben vom Wurzelgefl­echt und rot-weißen Tüchern in den Farben des Sakalava-Volkes birgt die Opferstätt­e Schalen mit Geldnoten, Münzen, Gewürze und eine Flasche »Bonbon Anglais«, der extrem süßen heimischen Limonade. Man wünscht sich Gesundheit, Kindersege­n oder einen reichen Ehemann. Auch Fanjas Fürbitten seien in Erfüllung gegangen. Man müsse fest daran glauben.

Nach Verlassen des Arbre Sacré führt sie die Gäste durch Gemüsebeet­e und eine Bananenpla­ntage zur Schule für Ökotourism­us. Der Lehrer Jean-Pierre Tomana steht an der Tafel und erklärt den Schülern gerade das Wesen des Chamäleons. »Es ist extrem langsam wie wir Madegassen auch«, sagt er und erzählt die Legende, wieso das so ist. Eines Tages kam Gott und schalt das Chamäleon: »Warum gehst du so schnell!?« Schnelligk­eit bringe kein Glück. »Geh langsam, mora, mora!« So verdammte Gott das Chamäleon zur Langsamkei­t. Nur seine blitzschne­lle Zunge durfte es behalten.

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Foto: Beate Schümann

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