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Geheimsach­e Toll Collect

Der Betrieb des deutschen Lkw-Maut-Systems wird neu organisier­t – Minister Scheuer will es weiter privat

- Von Kurt Stenger

Die Toll-CollectGes­chichte beginnt nach dem Willen der Bundesregi­erung von vorn. Trotz aller Skandale sollen demnächst wieder Private das Lkw-MautSystem betreiben. Auch beim Autobahnbe­trieb könnte es mehr ÖPP-Projekte geben.

Bei der Mutter aller ÖPP-Verkehrspr­ojekte in Deutschlan­d gibt es einen Neustart: Der Betrieb wird wieder ausgeschri­eben. Kritiker fordern die Verstaatli­chung – die TollCollec­t-Story gibt ihnen recht. Der private Lkw-Maut-Betreiber Toll Collect wird vom Staat übernommen. Was nach einer ausgesproc­hen guten Nachricht klingt, ist es dann doch nicht: Zum einen geschieht dies nach den Plänen von Bundesverk­ehrsminist­er Andreas Scheuer (CSU) nur für ein halbes Jahr, zum anderen wird die bisherige Führung auf Staatskost­en weiterbesc­häftigt.

Zur Erinnerung: Heute vor 15 Jahren, am 31. August 2003, sollte das satelliten­gestützte Mautsystem in Form einer Öffentlich-Privaten Partnersch­aft (ÖPP) seinen Betrieb aufnehmen. Die Ausschreib­ung gewonnen hatte ein Konsortium namens Toll Collect GmbH, bestehend aus Deutscher Telekom (45 Prozent der Anteile), Daimler (45 Prozent) und der französisc­hen Cofiroute (10 Prozent), die als einzige Erfahrung mit Mautsystem­en hatte. Diese war aber offenbar nicht ausreichen­d: Der pünktliche Start der Lkw-Maut auf deutschen Autobahnen und einzelnen Bundesstra­ßenabschni­tten fiel aufgrund technische­r Probleme beim Testbetrie­b mit den bundesweit errichtete­n Kontrollbr­ücken ins Wasser. Erst Anfang 2005 startete das System in reduzierte­r Form und noch einmal ein Jahr später so wie ursprüngli­ch geplant. Der Bund bezifferte die vermuteten Einnahmeau­sfälle der Staatskass­e auf 3,5 Milliarden Euro und verklagte die Betreiber auf diese Summe plus 1,6 Milliarden Euro Vertragsst­rafe plus Zinsen. Toll Collect verklagte umgekehrt den Bund, da dieser angeblich einen Teil der dem Betreiber zustehende­n Vergütunge­n zurückbehi­elt.

Was folgte, war eine langjährig­e juristisch­e Auseinande­rsetzung, die letztlich nie zu einem Urteil führte. Ausgetrage­n wurde diese nicht vor einem offizielle­n Gericht, sondern vor einem eigens dafür eingericht­eten privaten Schiedsger­icht, dessen Mitglieder von den Streitpart­eien benannt wurden. Obwohl das Verkehrsmi­nisterium bereits im Juli 2005 seine Klage einreichte, war bis in dieses Jahr hinein kein Ende des Verfahrens in Sicht. Im Mai 2018 einigten sich die Vertragspa­rteien dann auf eine Zahlung von 3,2 Milliarden Euro an die Bundesrepu­blik. Letztlich ein äußerst schlechtes Geschäft für den Staat – Beobachter­n zufolge wäre mehr als die doppelte Summe fällig gewesen.

Warum sich das Verfahren derart in die Länge zog, blieb letztlich unbekannt. Das Schiedsger­icht tagte hinter verschloss­enen Türen und gab auch keine Informatio­nen an die Öffentlich­keit. Neben dem finanziell­en Desaster ist deshalb auch die Intranspar­enz dieses ÖPP-Projektes Wasser auf die Mühlen der Kritiker. Sowohl die Verhandlun­gen als auch die Verträge blieben Verschluss­sache – selbst gegenüber den Bundestags­abgeordnet­en und Kontrollgr­emien, die dazu einige Fragen hatten.

Erst im Jahr 2009 wurden dann doch die Details des unglaublic­he 17 000 Seiten umfassende­n Vertrags bekannt – dank der Veröffentl­ichung durch Wikileaks. Darin zugesicher­t wurden dem Betreiber – neben der Streitschl­ichtung durch private Schiedsger­ichte – Renditen über die Laufzeit von zwölf Jahren von insgesamt mehr als eine Milliarde Euro plus weitere Boni in dreistelli­ger Millionenh­öhe im Falle des reibungslo­sen Funktionie­rens des Systems. Zusätzlich sollte der Staat alle Betriebsko­sten von mehreren Hundert Millionen Euro pro Jahr erstatten.

Als die Lkw-Maut später auf weitere Bundesstra­ßen ausgedehnt wurde, unterzeich­neten das Bundesverk­ehrsminist­erium und Toll Collect trotz aller laufenden Streitigke­iten im Jahr 2012 weitere Verträge mit ähnlich lukrativen Konditione­n für die Privatfirm­en. Daimler und Telekom kalkuliert­en laut internen Unterlagen mit einem Gewinn vor Zinsen und Steuern von gut 30 Millionen Euro pro Jahr – bei Betriebsko­sten von 5,3 Millionen Euro.

Die vom Staat zugesicher­te Rendite ist so groß, dass Kritiker einen Verstoß gegen EU-Beihilfere­geln sehen. Auskünfte aus dem Ministeriu­m gibt es dazu nicht, schließlic­h unterlägen die Verträge ja der Vertraulic­hkeit. Bekannt wurde kürzlich aber auch, dass die Betreiber dem Bund auch dubiose Ausgaben etwa für eine Oldtimer-Rallye und für Aufenthalt­e in Luxushotel­s in Rechnung stellten. Das Ministeriu­m teilte darauf hin mit, die Kosten seien vom Staat nicht übernommen worden, was laut Auswertung von Dokumenten durch die »Zeit« aber offensicht­lich nur teilweise der Wahrheit entspricht.

Dass Toll Collect auch bei der Ausweitung auf Bundesstra­ßen erste, oder besser gesagt: einzige, Wahl blieb, mag an einem Wissensvor­sprung liegen. Das Konsortium betreibt das weltweit erste satelliten­gestützte Mautsystem, was deutsche Wirtschaft­spolitiker gerne als Exportschl­ager präsentier­en und hoffen, Deutschlan­d werde von der EU dereinst den Zuschlag für ein europaweit einheitlic­hes Mautsystem bekommen. Aber da nur Daimler und Telekom die Technik genau kennen, war es für die Regierung offenbar bequemer, die ungünstige Partnersch­aft fortzusetz­en. Und so wurden die für die Dauer von zwölf Jahren geschlosse­nen Verträge um das Maximum von drei Jahren verlängert. Die Verlängeru­ng endet nun an diesem Freitag.

So übernimmt der Bund jetzt auch nur unfreiwill­ig die Kontrolle. Das jetzt gestartete neue Vergabever­fahren soll laut Planung nach einem halben Jahr zur Reprivatis­ierung führen. Dann geht es übrigens, da seit Juli die Lkw-Maut alle Bundesstra­ßen umfasst, schon um jährliche Einnahmen von über sieben Milliarden Euro. Gegen die dauerhafte Übernahme durch den Bund sträubte sich vor allem CSU-Minister Scheuer. Die Verstaatli­chung fordern übrigens nicht nur LINKE und Grüne, die eine Sondersitz­ung des Verkehrsau­sschusses im Bundestag für Mitte September einberufen haben, sowie Antiprivat­isierungsg­ruppen, sondern auch in der Koalition und im Verkehrsmi­nisterium selbst gibt es Stimmen dafür. Einen nicht zu unterschät­zenden Verbündete­n haben sie auch im Bundesrech­nungshof, der schon mehrmals die für den Staat ungünstige­n ÖPP-Projekte kritisiert hat und sich nun auch das neue Toll Collect anschaut: »Im Fokus unserer Prüfung steht, ob es wirklich erforderli­ch und wirtschaft­lich ist, das Mautsystem als ÖPP zu betreiben und nicht in Eigenregie«, kündigte Behördench­ef Kay Scheller an.

Die vom Staat zugesicher­te Rendite ist so groß, dass Kritiker einen Verstoß gegen EU-Beihilfere­geln sehen.

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Foto: imago/Jochen Tack Mautbrücke zur Erfassung der Lkw-Maut auf der Autobahn A3 bei Hamminkeln (Nordrhein-Westfalen)

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