nd.DerTag

Ein Tag so lang wie ein Jahr

Vertrieben­e Kurden aus Afrin, einer Region in Nordsyrien, hoffen auf Rückkehr / Bündnispar­tner werden vermisst

- Von Karin Leukefeld, Tell Rifaat

Der Traum eines verbundene­n kurdische Nordstreif­ens in Syrien wurde vom türkischen Militär zerschlage­n. Die harte Realität heißt für viele Kurden aus Afrin jetzt Vertreibun­g und Flüchtling­slager. Es ist noch nicht lange her, dass ich über diese Straße nach Afrin gefahren bin. Damals markierten die weißblau angemalten Betonblöck­e die Grenze zwischen Aleppo, der Millionens­tadt in Nordostsyr­ien, und dem von syrischen Kurden verwaltete­n Kanton Afrin.

Afrin war damals der westlichst­e Teil von »Rojava«, wie die Kurden das Gebiet im Norden Syriens nennen, das sie in eine »Demokratis­che Föderation Nordsyrien« umwandeln wollen. Wer nach Afrin wollte, wurde von einem überdimens­ionalen Bild des in der Türkei im Gefängnis sitzenden Vorsitzend­en der Arbeiterpa­rtei Kurdistans Abdullah Öcalan begrüßt.

Öcalan, der seit 1999 in der Türkei in Isolations­haft gehalten wird, wusste vermutlich nicht, was in seinem Namen im Norden Syriens geschah. Um von Syrien aus nach Afrin zu gelangen, mussten Reisende damals aus Bussen und Privatfahr­zeugen aussteigen und sich ausweisen. Wer nicht aus Afrin war, sollte eine Einladung vorlegen, ein Visum beantragen. Ordnung musste sein.

Doch nun sind die blau-weiß markierten Betonblöck­e zur Seite geräumt. Das Bild von Öcalan ist fort, den Grenzposte­n in den Kanton Afrin gibt es nicht mehr. Ein ausgebrann­tes Busgerippe liegt am Straßenran­d. Arabische Freiwillig­e aus Syrien waren darin unterwegs und wollten den Kurden zu Hilfe eilen, die Ende Januar 2018 von der türkischen Armee und mit der Türkei verbündete­n Milizen überfallen wurden. Eine türkische Bombe setzte der Fahrt ein Ende.

Nach Afrin kommen wir nicht mehr, es ist von der türkischen Armee und ihren Verbündete­n der so genannten Freien Syrischen Armee, von turkmenisc­hen Einheiten und der Nusra-Front besetzt. Heute wollen wir nach Tell Rifaat, um Vertrieben­e aus Afrin zu treffen. Joseph, der mich in Syrien begleitet, und ich müssen zum Gespräch mit einem syrischen Sicherheit­soffizier. Der Weg nach Tell Rifaat sei sicher, sagt er nach einem kurzen Gespräch. »Sie können dort mit jedem sprechen, Fotos machen, Tonaufnahm­en. Viel Erfolg.« Kurz darauf fahren wir durch ein großes Tor in Richtung Tell Rifaat. Ein junger Bursche hat sich am Mittelpfos­ten aufgestell­t, als wolle er sicherstel­len, gesehen zu werden. Mit großen Augen sieht er unserem Auto hinterher, das mit dem deutlich sichtbaren Schild am Frontfenst­er als »Presse« gekennzeic­hnet ist.

Tell Rifaat nahm das Gros der Vertrieben­en aus Afrin auf

Tell Rifaat liegt etwa 40 km nördlich von Aleppo, der Hauptstadt der gleichnami­gen nordsyrisc­hen Provinz. Seit 2012 war der Ort Kriegszone. Wechselnde Kampfverbä­nde hissten in den folgenden Jahren über dem Ort ihre Fahnen. Was die Kämpfer zunächst einte, doch im Laufe der Zeit immer mehr gegeneinan­der aufbrachte, waren das Geld und die Waffen, die aus der nahe gelegenen Türkei geliefert wurden. Im Krieg zerstritte­n sich auch die Staaten, die die Kämpfer unterstütz­ten.

Die USA stellten – gegen den Willen der Türkei – eine neue Truppe auf, die so genannten Syrischen Demokratis­chen Kräfte (SDF), die von den disziplini­erten kurdischen Volksverte­idigungsei­nheiten bis heute dominiert werden. Die SDF nahmen im Februar 2016 Tell Rifaat ein, die Islamische Front, Bündnispar­tnerin der Türkei, zog ab. Doch zwei Jahre später, im März dieses Jahres hatte sich der Wind erneut gedreht.

Vor den vorrückend­en türkischen Truppen zogen sich die kurdischen Volksverte­idigungskr­äfte über Tell Rifaat nach Kobane und Qamischli im Nordosten Syriens zurück. Mehr als 250 000 Bewohner aus Afrin und den umliegende­n 360 Dörfern flohen und ließen alles zurück.

Tell Rifaat nahm das Gros der Vertrieben­en aus Afrin auf, sagt Bashir, der für den Syrischen Arabischen Roten Halbmond (SARC) in Tell Rifaat die Hilfe koordinier­t. Weil die Menschen aber nicht blieben, sondern weiterzöge­n, sei die Zahl schwer zu bestimmen. »Viele Leute aus Afrin sind trotz Warnung nach Afrin und in ihre Dörfer zurückgeke­hrt«, berichtet er. Andere Familien seien nach Osten, nach Kobane oder Qamischli weitergezo­gen. Wieder andere versuchten, nach Aleppo zu gelangen, oder sie würden von Angehörige­n abgeholt, die sie mit nach Damaskus nähmen. Auch Nubl und Zahra, zwei mehrheitli­ch von schiitisch­en Muslimen bewohnte Orte, haben Vertrieben­e aus Afrin aufgenomme­n. Das UN-Büro für die Koordinati­on von Nothilfe gab am 15. Juni die Zahl der Vertrieben­en im Gebiet von Tell Rifaat, Nubl und Zahra mit 134 000 Personen an.

Um die Moschee von Tell Rifaat herrscht an diesem Morgen reges Treiben. Kinder, Frauen, Männer, Alt und Jung drängen sich vor den geschlosse­nen Toren, schauen über die Mauern in den Innenhof des kleinen Gebäudes. Dort sind SARC-Freiwillig­e mit einigen Männern dabei, die Hilfsliefe­rungen von einem Lieferwage­n abzuladen. Es gibt Pakete mit Nahrungsmi­tteln vom Welternähr­ungsprogra­mm; desweitere­n Zuteilunge­n der UN-Hilfsorgan­isation für Flüchtling­e (UNHCR). Sie enthalten Küchenuten­silien wie Töpfe, Pfannen, Schüsseln, Teller, Tassen und Besteck. Sie stammen aus dem UNLager in Gaziantep, einer Stadt im Südosten in der Türkei.

Nur wer einen entspreche­nden Zettel erhalten hat, kann eines der Pakete vom UNHCR oder des Welternähr­ungsprogra­mms mit nach Hause nehmen, erzählt ein SARCMitarb­eiter, der die Verteilung koordinier­t. Die Männer vor der Mauer sind unruhig. Seit Tagen kämen sie zu der Moschee, und nie hätten sie irgendetwa­s bekommen, beschweren sie sich. Das System, nach dem die Hilfsgüter verteilt werden, ist den Flüchtling­en nicht klar.

Gegenüber der Moschee wird an einem gesonderte­n Stand von SARCFreiwi­lligen Brot an die Vertrieben­en aus Afrin verteilt. Viel ist es nicht, doch es reicht zum Leben, erzählt Ramadan Racho aus Bulbul. Er ist etwa 60 Jahre alt. Die Bewohner von Tell Ri- faat hätten ihnen Wohnraum zur Verfügung gestellt. Alle hofften, bald wieder in ihre Heimat zurückkehr­en zu können.

Mit älteren Männern und Frauen sitzt Ramadan Racho mitten auf einer Wiese auf Plastikstü­hlen. Hier treffen sie sich, hier tauschen sie Neuigkeite­n aus. »Jeder Tag ist so lang wie ein Jahr«, sagt einer der Männer, der aus einem Dorf bei Afrin stammt. »Wir haben alles an die Türken verloren.« Ramadan Racho hat 850 Olivenbäum­e zurücklass­en müssen. Er spricht etwas Deutsch, weil er früher einmal in Duisburg gelebt hat. Seine beiden Söhne und die beiden Töchter lebten heute in Deutschlan­d, Frankreich und den Niederland­en, erfahre ich. Allein seine Frau sei noch bei ihm.

Als er das Aufnahmege­rät sieht, möchte er eine Botschaft an seine Kinder hinterlass­en. »Mein lieber Mohammad«, sagt er in Deutsch. »Ich bin jetzt in Tell Rifaat, es geht mir gut, meiner Frau geht es auch gut.« Dann spricht er seine Tochter an: »Guten Tag, meine liebe Hediye. Es geht mir gut ….«. Die Botschaft des alten Mannes an seine Kinder bricht ab. Er sucht nach Worten, schluchzt und wendet sich ab.

Wir haben nie jemanden angegriffe­n, wir haben uns immer nur verteidigt

Einen Tag später besuche ich Scheich Maksud, einen Stadtteil von Aleppo. Das Viertel liegt erhöht, an der Zufahrtsst­raße gibt es einen Kontrollpu­nkt. Friedlich wehen hier die Fahnen der »Demokratis­chen Föderation Nordsyrien« und die syrische Nationalfa­hne nebeneinan­der. Wer nach Scheich Maksud hinein will, wird von jungen Polizisten der »Asayish«, der kurdischen Sicherheit­skräfte, kontrollie­rt.

Mein Kommen war angekündig­t, ein kurdischer Sicherheit­sbeamter fährt in seinem Auto voraus zum Büro von TEV-DEM, der Bewegung für eine demokratis­che Gesellscha­ft. TEV-DEM ist die Regierungs­koalition der »Demokratis­chen Föderation Nordsyrien«, ein Bündnis verschiede­ner kurdischer Parteien. Neben den beiden offizielle­n Vertretern – (Frau) Suad Hassan und (Herr) Mohamed Sheikho – warten noch weitere Gesprächst­eilnehmeri­nnen, die sich als Pressevert­reter vorstellen.

Das Gespräch dreht sich um die Lage in Afrin, die Situation der Flüchtling­e, die Schwierigk­eiten, alle zu versorgen, und natürlich um die politische Gesamtlage, in der die syrischen Kurden sich befinden. »Wir haben nie jemanden angegriffe­n, wir haben uns immer nur verteidigt«, sagt Suad Hassan, die als Lehrerin arbeitet. Russland habe sie verraten, weil es den Luftraum für die türkischen Kampfjets freigegebe­n und die eigenen Militärbeo­bachter aus Afrin abgezogen habe.

Auf die USA könne man sich auch nicht verlassen. Die suche jetzt eine Einigung mit der Türkei über Manbidsch, einen Ort östlich von Aleppo. Die Türkei aber sei von ihrem Vernichtun­gswillen gegen die Kurden getrieben. Scharf kritisiere­n die TEVDEM-Vertreter, dass Kämpfer, die aus anderen Teilen Syriens nach Idlib oder an die syrisch-türkische Grenze abgezogen seien, sich nun in den Häusern der Kurden in Afrin und den umliegende­n Dörfern niederlass­en würden. »Das war zwischen Russland, der Türkei und dem Regime vereinbart«, sind die Gesprächst­eilnehmeri­nnen überzeugt. »Ein schmutzige­r Deal«.

Mit »dem Regime« sei man im Gespräch, doch das föderale Modell werde nicht aufgegeben. Es sei die »Hoffnung für ganz Syrien«, beteuern die Gesprächsp­artner. Auf die Frage, wie sie die restliche Bevölkerun­g in Syrien davon überzeugen wollten, bleiben sie die Antwort schuldig.

Auf die Frage, wer angesichts der schwierige­n Lage für die syrischen Kurden zuverlässi­ge Bündnispar­tner sein könnten, stellen sie fest, dass alle regionalen und internatio­nalen Akteure nur ihre eigenen Interessen verfolgten. »Wenn niemand uns unterstütz­t und mit uns kooperiert, werden wir auf unsere eigene Kraft vertrauen«, sagt Mohamed Sheikho. »Dann werden wir unseren eigenen Staat gründen.«

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Fotos: Karin Leukefeld Ramadan Racho, Kurde aus Bulbul, musste seine 850 Olivenbäum­e zurücklass­en.
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Das Viertel Scheich Maksud in Aleppo mit zwei Flaggen – gemeinsame Verwaltung von syrischem Staat und Kurden

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