nd.DerTag

Staatlich geförderte Unsicherhe­it

Ein Buch über prekäre Arbeit spart nicht mit Kritik an Gewerkscha­ften

- Von Peter Nowak

Arbeit auf Abruf, digitale Klickarbei­t, Werkverträ­ge – Stefan Dietl, Gewerkscha­fter und Publizist aus Regensburg, beschreibt neue Formen von Prekarität und motiviert zum Widerstand. »Vor 15 Jahren, am 14. März 2003, verkündete Gerhard Schröder in einer Regierungs­erklärung die Pläne der rot-grünen Bundesregi­erung zur Umstruktur­ierung des Sozialsyst­ems und des Arbeitsmar­ktes, die später unter dem Namen Agenda 2010 bekannt werden sollten.« Mit dieser historisch­en Reminiszen­z leitet Stefan Dietl sein kürzlich im Unrast-Verlag erschienen­en Buch »Prekäre Arbeitswel­ten – von digitalen Tagelöhner­n bis zur Generation Praktikum« ein. Schließlic­h war die Agenda 2010 der Schlüssel für die Prekarisie­rung des Arbeitsmar­ktes. Sie war politisch gewollt und kein unbeabsich­tigter Kollateral­schaden, macht Dietl immer wieder deutlich.

Leiharbeit, Werkverträ­ge, Minijobs, Befristung­en – fast 40 Prozent der Beschäftig­ten in Deutschlan­d arbeiten inzwischen in derlei prekären Arbeitsver­hältnissen. Für die Betroffene­n bedeuten sie häufig niedrige Löhne, geringe soziale Absicherun­g und ständige Angst vor dem Verlust des Arbeitspla­tzes.

In seinem Buch stellt Stefan Dietl zunächst neuere Formen der Prekarität vor. Von der »kapazitäts­orientiert­en variablen Arbeitszei­t« – Teilzeitar­beit auf Abruf – bis zur GigÖkonomi­e. bei der kleine Aufträge kurzfristi­g an unabhängig­e Freiberufl­er oder geringfügi­g Beschäftig­te vergeben werden, reichen die Arbeitsver­hältnisse, die den Lohnabhäng­igen Rechte vorenthalt­en, die sie in den letzten Jahrzehnte­n erkämpft haben. Ein eigenes Kapitel widmet sich den Wanderarbe­iter*innen, deren Zahl in den letzten Jahren stark zugenommen hat.

Im zweiten Teil des Buches stehen die Formen von atypischen Beschäftig­ungsverhäl­tnissen im Mittelpunk­t, die seit Einführung der Agenda 2010 boomen. Dabei zeigt Dietl, wie kreativ gesetzlich­e Bestimmung­en umgangen werden. »So stellen immer mehr Unternehme­n nur noch Praktikums­plätze zur Verfügung, wenn Bewerber*innen sich zuvor bescheinig­en lassen, dass es sich um ein Pflichtpra­ktikum handelt – obwohl sie sich eigentlich um ein mindestloh­npflichtig­es, freiwillig­es Praktikum beworben haben.« In einem eigenen Kapitel zeigt Dietl, dass der Mindestloh­n wegen seiner Ausnahmere­gelungen für viele prekär Beschäftig­te keine Verbesseru­ngen bringt. Nur die Selbstorga­nisation der Betroffene­n könne ihre Situation verbessern, betont er.

Obwohl seit Jahren bei ver.di aktiv, spart Dietl nicht mit Kritik an den Gewerkscha­ften. So erinnert er an die gewerkscha­ftlichen Vertreter*innen in der Hartz-IV-Kommission und kritisiert die Entscheidu­ng, einen Tarifvertr­ag für Leiharbeit­er*innen zu schließen, der dem Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit zuwiderläu­ft. Auch im Umgang mit dem wachsenden Heer von Haushaltsh­ilfen sieht Dietl Defizite. Statt auf die Organisier­ung der Betroffene­n setze man auf staatliche­s Durchgreif­en gegen Schwarzarb­eit.

Im letzten Kapitel zeigt Dietl, wie sich Beschäftig­te gegen prekäre Arbeitsver­hältnisse wehren. Als herausrage­ndes Beispiel erwähnt er einen Streik im Bremer MercedesWe­rk gegen die Einführung von Leiharbeit von 2012. Der lokale IGMetall-Vorstand lehnte damals jede Unterstütz­ung ab. Auch weitere Beispiele von Widerstand prekär Beschäftig­ter – mit Unterstütz­ung der Basisgewer­kschaft FAU, aber auch von DGB-Gewerkscha­ften – werden benannt und können Leser*innen Anregungen geben.

Stefan Dietl: Prekäre Arbeitswel­ten. Von digitalen Tagelöhner­n bis zur Generation Praktikum, Unrast Verlag 2018, 72 Seiten, 7,80 Euro.

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