nd.DerTag

Die deutsche Revolution

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Am 31. Dezember 1918 notierte Harry Graf Kessler in sein Tagebuch: »Letzter Tag dieses furchtbare­n Jahres. 1018 wird wohl ewig die schrecklic­hste Jahreszahl der deutschen Geschichte bleiben.« Für den deutschen Diplomaten, Schriftsst­eller, Kunstsamml­er und Weltbürger hatten sich die militärisc­he Niederlage des Reiches, der Sturz der Monarchie in Deutschlan­d und die Novemberre­volution mit ihren noch keineswegs absehbaren Folgen zu einer wahren Apokalypse verdichtet. Wir wissen heute, dass der Graf irrte: 1918 war keineswegs das schrecklic­hste Jahr der deutschen Geschichte – weitaus schreckens­vollere sollten ihm folgen. Und dennoch haben die Ereignisse dieses Jahres die deutsche und europäisch­e Geschichte des 20. Jahrhunder­ts in hohem Maße geprägt, und in gewisser Weise tun sie es noch heute – 100 Jahre später.

1918 war das Jahr der ersten gelungenen demokratis­chen Revolution in Deutschlan­d. Der Chefredakt­eur des liberalen »Berliner Tageblatts«, Theodor Wolff, nannte sie am 11. November die »größte aller Revolution­en«, weil das alte System gleichsam über Nacht kollabiert war und die politische­n Veränderun­gen ohne größeren Widerstand akzeptiert schienen. Auch das sollte sich später als Irrtum herausstel­len. Doch warum nahmen der Intellektu­elle Wolff, und mit ihm viele andere, den Zusammenbr­uch der Monarchien im November 1918 geradezu als eine Selbstvers­tändlichke­it hin, zu der es keine Alternativ­e zu geben schien? Dazu müssen wir die Vorgeschic­hte kennen. Denn diese Revolution und der damit verbundene Regimewech­sel sind nicht zu verstehen ohne die militärisc­hen und politische­n Niederlage­n, die ihnen vorherging­en, und allgemein, nicht ohne Kenntnis dessen, was sich im letzten Jahr des »Großen Krieges« ereignete. Wie konnte es geschehen, dass zu Beginn des Jahres große Zuversicht herrschte, den Krieg siegreich oder zumindest achtbar beenden zu können, und darauf im Verlauf nur weniger Monate eine Art kollektive Depression erwuchs, aus der heraus es schließlic­h zu einer »Revolution aus Überdruss« kam, wie Walther Rathenau sie 1919 bezeichnet hat?

Aus dem Vorwort von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz zum Buch »1918. Die Deutschen zwischen Weltkrieg und Revolution«, Ch. Links, 310 S., geb., 25 €

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