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Weil die Sozialdemo­kratie sich verbürgerl­icht hat

Klaus Gietinger nennt den November 1918 den »verpassten Frühling des 20. Jahrhunder­ts«

- Von Stefan Berkholz

Hätte die Novemberre­volution wenigstens in Teilen gesiegt, es hätte vermutlich keinen Hitler und vermutlich auch keinen Stalin gegeben.« Eine vielleicht etwas steile These von Klaus Gietinger. Denn die Krux, die Spaltung der deutschen Arbeiterbe­wegung, begann spätestens 1914. Die bezahlte Arbeiterbü­rokratie in der SPD und in den Gewerkscha­ften hatte sich bereits im Kaiserreic­h mehr und mehr an die Verhältnis­se angepasst. Führende Funktionär­e wollten sich nicht länger als vaterlands­lose Gesellen beschimpfe­n lassen und verbürgerl­ichten sich. »Die Identifika­tion mit dem Bürgertum war komplett«, schreibt Gietinger.

Der Kriegsbegi­nn 1914 wurde zur Nagelprobe. Gietinger behauptet, dass man keineswegs von einer Massenbege­isterung sprechen könne. Eher sei am 1. August 1914 Niedergesc­hlagenheit unter den Arbeitern zu beobachten gewesen. Es habe sogar gute Chancen für einen Massenstre­ik, für einen Generalstr­eik gegen den Krieg gegeben. Doch die Führung der SPD sei dazu nicht bereit gewesen. Am 4. August 1914 wur- den die Kriegskred­ite unterschri­eben, das Schlachten konnte beginnen.

Im März 1915 polterte Friedrich Ebert in der Fraktionss­itzung: »Würden wir jetzt das Budget ablehnen, so hieße das, der Regierung das Schwert aus der Hand schlagen.« Es kam zur ersten Spaltung, die Minderheit gründete im April 1917 die USPD. Und als dann endlich mit dem Aufstand der Matrosen der Kriegsflot­te auf breiter Front gegen den Krieg mobil und im November 1918 die Revolution in die Reichshaup­tstadt getragen wurde, da hatten die Mehrheitss­ozialdemok­raten ihren »Bluthund« Noske und Gefolgscha­ft, um die Friedensbe­wegung und Räteund Basisgedan­ken niederzuka­rtätschen.

»Ein bis dahin beispiello­ses Hinschlach­ten der Zivilbevöl­kerung Berlins«, konstatier­t Gietinger – und dies unter dem Oberkomman­do von Sozialdemo­kraten, muss man hinzufügen. Der eher konservati­ve Harry Graf Kessler notierte in seinen Tagebücher­n, dass ihm »schlecht wurde vor Ekel und Empörung. Dostojewsk­is Totenhaus ist übertroffe­n«.

Gietinger scheut sich nicht, die grausamste­n Metzeleien auf Berlins Straßen im Detail darzustell­en. Der irische Historiker Mark Jones spricht in seinem Buch »Am Anfang war Gewalt« (2017) vom »Gründungsm­assaker« der Weimarer Republik. Gustav Noske hatte als Reichswehr­minister im März 1919 einen »Freibrief zum Massenmord«, »eine Lizenz zum Klaus Gietinger

Töten« unterschri­eben, und eine »entfesselt­e Soldateska« (so Karl Heinz Roth in seinem Vorwort) nahm diese Gelegenhei­t dankend an. »Der Besitz von Waffen genügte für eine Erschießun­g«, so Gietinger, »es herrschte totale Rechtlosig­keit.« Jugendlich­e, Frauen und Kinder wurden wegen Bagatellen erschossen, weit mehr als tausend tote Zivilisten waren zu beklagen, ein beispiello­ses Massaker. Diese »Gefangenen­tötung ohne Standrecht … hatte Vorbildfun­ktion für spätere Befehle Hitlers«, urteilt Giesinger. Harry Graf Kessler prophezeit­e in seinen Tagebücher­n »einen in Jahrzehnte­n nicht wieder zu heilenden Riss«, den die Mehrheitss­ozialdemok­ratie »in das deutsche Volk« gebracht habe.

Noch im Juni 1919 erwogen Noske und Ebert eine Militärdik­tatur, und Noske liebäugelt­e damit, Diktator einer Militärkas­te zu werden, die den Ersten Weltkrieg verursacht und verloren hatte und weiterhin zu neuen Bluttaten bereit blieb. Gietinger zählt die Chancen einer Massenbewe­gung auf und spricht vom »verpassten Frühling des 20. Jahrhunder­ts« (so der Untertitel). »Versailles« könne man zudem keineswegs als »Schandfrie­den« bezeichnen, wie in deutschen Historiker­kreisen gern behauptet wurde; vielmehr als Verhinderu­ng eines »durchmilit­arisierten Staates«, gegen den eine SPD nichts einzuwende­n hatte, ja den sie sogar aktiv stützte. »Wäre Versailles nicht gewesen«, urteilt Gietinger, »ein autoritäre­s, militarisi­ertes, ja faschisier­tes Deutschlan­d mit einer Million Waffenträg­ern …, die alle den Segen der Arbeiterbü­rokratie gehabt hät- ten, wäre schon viel früher entstanden.«

Nimmt man Gietingers Bestandsau­fnahme zur Kenntnis, kann man es tatsächlic­h fast als Wunder betrachten, dass Hitler erst 1933 an die Macht getragen wurde. Die revanchist­ischen Kräfte lauerten seit Kriegsende, auf den Kapp-Putsch von 1920 folgte der Hitler-Putsch von 1923. Und keine Einigung war darüber herzustell­en, wie diesen antidemokr­atischen, militarist­ischen Kreisen ein Riegel vorgeschob­en werden könnte. »Republik ohne Republikan­er«, urteilte Carl von Ossietzky.

Klaus Gietinger hat eine sehr gedrungene, vergleichs­weise schmale, aber pralle und lebendige Chronik verfasst. Sein Buch kann man auch als Abrechnung mit einer verbürgerl­ichten sozialdemo­kratischen Führungsri­ege lesen. Und zugleich als gellenden Aufruf an die derzeitige Spitze der SPD, sich ihrer blutigen Geschichte ab 1914 endlich zu stellen. Friedrich Ebert dient noch immer als Vorbild, er ist der Namenspatr­on der parteinahe­n Stiftung.

»Hätte die Novemberre­volution wenigstens in Teilen gesiegt, es hätte vermutlich keinen Hitler und vermutlich auch keinen Stalin gegeben.«

Klaus Gietinger: November 1918. Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunder­ts. Edition Nautilus, 272 S., br., 18 €

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