Kein Schweigen in Chemnitz
Am Wochenende rufen ein Bündnis zur Kundgebung »Herz statt Hetze« und die AfD zum Schweigemarsch
Chemnitz steht nach den rechten Übergriffen und hitzigen Debatten der letzten Tage erneut ein ereignisreiches Wochenende bevor. Auch Bundespolitiker machen sich auf den Weg. Ein breites Bündnis aus Vereinen, Stadtgesellschaft, Parteien und Gruppen versammelt sich am Sonnabendnachmittag zu einer Demonstration »Herz statt Hetze« an der Johanniskirche in der sächsischen Stadt. Es gehe inzwischen um »nicht weniger als die Verteidigung einer demokratischen und humanen Gesellschaft«, meinte im Vorfeld der Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Bundestag Dietmar Bartsch, der daran teilnehmen wird. Wie auch die GrünenVorsitzende Annalena Baerbock und SPD-Vize Manuela Schwesig.
Nach den bereits vorausgegangenen Demonstrationen von Chemnitzer Bürgern, die so schlecht von ansässigen und angereisten Neonazis zu unterscheiden sind, wenn sie sich gemeinsam mit ihnen lauthals über die vermeintlich zu großzügige deutsche Flüchtlingspolitik echauffieren, ruft nun die AfD gemeinsam mit Pegida zu einem sogenannten Schweigemarsch auf. Hintergrund ist der gewaltsame Tod eines 35-Jährigen vor einer Woche, weshalb mit einem Schweigen der Teilnehmer erneut nicht gerechnet werden kann.
Als erstes Mitglied der Bundesregierung besuchte Bundesfamilienministerin Giffey (SPD) am Freitag die Stadt. Sie legte Blumen an dem Ort nieder, an dem der junge Mann vor einer Woche mutmaßlich von einem 22-jährigen Iraker niedergestochen worden war. Ein ebenfalls verhafteter 23-jähriger Syrer hat den Iraker inzwischen schwer beschuldigt.
Bundes- und Landespolitiker riefen im Vorfeld des Wochenendes zum Kampf gegen Rechtsext- remismus auf. »Wir stehen zusammen dafür, dass Chemnitz und Sachsen mehr sind als brauner Mob«, sagte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD). Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) wandte sich lieber gegen Pauschalurteile. Kretschmer hatte am Donnerstagabend bei einem Bürgergespräch um Vertrauen in die staatliche Ordnung geworben. Die Atmosphäre war dabei gespannt, und Kretschmer suchte den Konsens mit den Chemnitzer Bürgern, indem er pauschal »Extremisten«, also Nazis und Antifaschisten, gemeinsam den Kampf ansagte. Am Rande der Veranstaltung fand auch eine Kundgebung der rechtsextremen Organisation Pro Chemnitz statt. Nach einer Umfrage des ZDF-»Politbarometers«, die am Freitag veröffentlicht wurde, nahmen 76 Prozent der Befragten eine sehr große oder große Gefahr für die Demokratie durch Rechtsextreme wahr, 23 Prozent taten das nicht.
Kretschmer sieht das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zudem in der Verantwortung, über mögliche Versäumnisse bei einem Abschiebungsverfahren für den irakischen Tatverdächtigen aufzuklären. Die Menschen hätten einen Anspruch darauf, sagte Kretschmer am Freitag im »Morgenmagazin« des ZDF. Der Mann hätte nach Ansicht des Verwaltungsgerichts Chemnitz bereits im Mai 2016 nach Bulgarien abgeschoben werden können.
»Wir stehen dafür, dass Chemnitz und Sachsen mehr sind als brauner Mob.« Familienministerin Franziska Giffey (SPD)
Nach den pogromartigen Ausschreitungen der vergangenen Tage kommen am Montag zahlreiche Bands nach Chemnitz. Einige kritisieren, dies wäre ein symbolisches Wohlfühlevent ohne Konsequenzen, eine Entpolitisierung des brodelnden Hasses, eine oberflächliche kurzfristige Befriedung – eine bürgerliche Beruhigungspille.
Diese offenbar aus einer Luxussituation heraus geäußerte Einschätzung verkennt die dramatische Situation, die wir seit Jahren in Teilen Deutschlands haben. Es gibt schlicht Orte, die brauchen jede Unterstützung, die sie kriegen können. Orte, in denen man als Antifaschist oder als Demokrat allein dasteht und zermürbende Sisyphusarbeit leistet, um das Schlimmste zu verhindern. Orte, an denen Rechten die Straßen gehören, die Bevölkerungsmehrheit wegschaut, die Behörden kriminalisieren, verschweigen, relativieren oder anheizen. Dort, wo man die Wahl zwischen Wegziehen, Rückzug oder dem Kassieren von Prügel für seine Ideale oder Hautfarbe hat.
Politisch bewusste Kulturevents wie »Wir sind mehr« oder »Noch nicht komplett im Arsch« können in diesen umkämpften bis feindlich gesonnen Landschaften Kraft spenden. Sie zeigen, dass man nicht alleine ist. Dass es der Gesellschaft nicht egal ist, was passiert. Unentschlossenen oder Verängstigten wird ein niedrigschwelliges Angebot gemacht. Wenn nur ein paar über die Worte von Monchi, Torsun oder Marteria ins Grübeln kommen, ist es ein Fortschritt; wenn sie sich später engagieren, ein Erfolg. Alles, was hilft, die rechte Hegemonie zu durchbrechen, und sei es für einen Tag, verschafft Luft zum Atmen. Man muss es sich leisten können, auf den Aufstand der Anständigen zu verzichten.
Feine Sahne Fischfilet erklären selbst, »dass nach Montag die Welt nicht in Ordnung ist«. Natürlich braucht es langfristige Unterstützung antifaschistischer Strukturen und der Zivilgesellschaft. Kulturarbeit kann Basisarbeit nicht ersetzen. Sie kann letztere aber stärken.