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Furcht vor No-go-Areas für Migranten Wie geht es weiter in Chemnitz?

André Löscher von der Opferberat­ungsstelle Chemnitz über die Naziattack­en in Sachsen

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Sie unterstütz­en Betroffene rechter Gewalt in Chemnitz. Haben sich nach den Ausschreit­ungen in der letzten Woche viele Menschen bei Ihnen gemeldet?

Es haben sich bei uns mehrere Zeugen gemeldet. Wir sondieren noch, wie viele Angriffe es insgesamt gegeben hat. Für den Sonntag zählen wir gerade sieben Übergriffe. Da hat ein spontan mobilisier­ter Mob gezielt Jagd auf ausländisc­h aussehende Menschen gemacht, an Orten in Chemnitz, von denen sie wussten, dass sich dort vermehrt Migranten aufhalten. Für die große Demonstrat­ion am Montag wissen wir bisher von elf rechten Angriffen mit verschiede­nen Opferzahle­n. Unsere Zahl könnte deutlich höher ausfallen als die der Polizei.

In einem Bericht von 2017 resümiert die Opferberat­ung, dass rechte und rassistisc­he Gewalt in Sachsen im Vergleich zum Vorjahr gesunken ist, es aber nach wie vor ein hohes Gewaltpote­nzial gäbe, was sich jederzeit abrufen lasse. Haben die Ausschreit­ungen in Chemnitz also nicht überrascht? Doch. Besonders die schnelle Mobilisier­ung der Rechten am Sonntag hat mich überrascht. Das zeigt, wie gut die Szene in Sachsen vernetzt ist.

Wie bewertet der Verein den Umgang der Landesregi­erung mit den Ausschreit­ungen?

Wir hätten uns von der Landesregi­erung ein schnelles Zeichen gewünscht. Wie Regierungs­chef Michael Kretschmer das etwa nach dem Vorfall um die Behinderun­g eines ZDF-Journalist­enteams getan hat, als er sofort seine Polizei in Schutz genommen hat. Und wir hätten uns gewünscht, dass mit einer angemessen­en Polizeiprä­senz auf die rechte Gewalt reagiert wird.

Was bedeuten die Pogrome für den Alltag der Menschen?

Wir selber als Verein haben eine Empfehlung für Migranten herausgege­ben, am letzten Montag die In- nenstadt zu meiden. Das war furchtbar, aber wir hielten es für notwendig, da die Polizei nicht willens war, die Lage abzusicher­n. Ob die Stimmung anhält, ob sich hier No-go-Areas für Migranten herausbild­en, wird sich zeigen.

Ist Rechtsradi­kalismus aus ihrer Erfahrung in der Opferberat­ung ein sächsische­s Problem?

Rechte Gewalt gibt es überall. Aber Sachsen spielte aufgrund der Höhe der Fallzahlen schon immer eine besondere Rolle. Im letzten Jahr mussten wir 229 Angriffe mit 346 Betroffene­n bilanziere­n. Im Jahr 2016 waren es sogar 437 Angriffe, darunter Körperverl­etzungen, Nötigungen, Bedrohunge­n und Brandstift­ungen. Gleichwohl gibt es auch Bundesländ­er, wo Beratungss­tellen neu entstehen, für die vorher keine Daten vorlagen. Eine neue Beratungss­telle in Rheinland-Pfalz meldet etwa überrasche­nd hohe Zahlen. Was in Sachsen besonders ist, was ich von woanders nicht kenne, ist der Umgang mit solchen Problemen. Der durchgesto­chene Haftbefehl, aber auch der Umgang mit dem Mitarbeite­r des LKA zeigen eben, wie eng in Sachsen staatliche Organe, Justiz und Polizei mit rechtsoffe­nen und rechten Strukturen verbandelt sind.

Nach dem Montag sind uns die Bilder von anderen Ausschreit­ungen in Heidenau und Freital sehr präsent. So weit darf es hier nicht kommen. Es gibt zwar einige Lichtblick­e. Zum Beispiel Künstler, die sich bereit erklärt haben, an den kommenden Montagen Konzerte in Chemnitz zu spielen. Trotzdem wird der Samstag schwierig für uns. Es sind mehrere Demonstrat­ionen angemeldet. Wir befürchten, dass es auch durch die Teilnahme von Björn Höcke und dadurch, dass am Wochenende das Mobilisier­ungspotenz­ial der Rechten deutlich höher sein wird, richtig gefährlich wird. Dagegen brauchen wir ein starkes Zeichen der Politik, aber auch der Zivilgesel­lschaft.

 ?? Foto: privat ?? André Löscher arbeitet für die Opferberat­ung Sachsen. Er unterstütz­t Betroffene rechter Gewalt. Der Verein wurde Anfang der 1990er Jahre vor dem Hintergrun­d zunehmende­r rechtsextr­emistische­r Gewalt im Freistaat – nicht zuletzt der Übergriffe 1991 in Hoyerswerd­a – gegründet. Neben der Beratung ist die Erfassung von Fallzahlen ein Arbeitssch­werpunkt. Für »nd« sprach mit ihm Fabian Hillebrand.
Foto: privat André Löscher arbeitet für die Opferberat­ung Sachsen. Er unterstütz­t Betroffene rechter Gewalt. Der Verein wurde Anfang der 1990er Jahre vor dem Hintergrun­d zunehmende­r rechtsextr­emistische­r Gewalt im Freistaat – nicht zuletzt der Übergriffe 1991 in Hoyerswerd­a – gegründet. Neben der Beratung ist die Erfassung von Fallzahlen ein Arbeitssch­werpunkt. Für »nd« sprach mit ihm Fabian Hillebrand.

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