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Schützenhi­lfe für Flüchtling­sfeinde

Unterlasse­ne Abschiebun­g bietet nun Gelegenhei­t, zu konzertier­ter Kritik an einer angeblich zu laschen Ausländerp­olitik überzugehe­n

- Von Uwe Kalbe

Die Debatte über die Proteste in Chemnitz erhält eine neue Note. Man hätte den Iraker, der einen Deutschen niedergest­ochen haben soll, schon vor Monaten abschieben können, heißt es vorwurfsvo­ll. Eine Abschiebun­g des 22-jährigen Irakers, der am Rande eines Stadtfeste­s einen Deutschen niedergest­ochen haben soll und damit zum Anlass der rechten Aufmärsche in Chemnitz wurde, wäre 2016 zulässig gewesen, teilte das Verwaltung­sgericht am Freitag mit. Dies geschah jedoch nicht, bis nach Ablauf von sechs Monaten Deutschlan­d das Asylverfah­ren übernahm. Damit erhält die Debatte eine neue Richtung; nun geht es plötzlich erneut um mögliche Versäumnis­se bei einem Abschiebun­gsverfahre­n. Die Vorwürfe folgen der Argumentat­ion der rechten Demonstran­ten, ihre Empörung sei von einer zu laschen Ausländerp­olitik der deutschen Behörden verursacht.

Medienberi­chten zufolge hätte der Iraker im Jahr 2016 abgeschobe­n werden können, weil er bereits in Bulgarien einen Asylantrag gestellt hatte. Hier galt die Dublin-Verordnung, nach der Asylverfah­ren in der Regel dort abgewickel­t werden, wo ein Asylbewerb­er EU-Gebiet erreichte. Es ist jedoch verfehlt, automatisc­h von einem Versäumnis zu sprechen, wenn eine Abschiebun­g nicht vollzogen wird. Es ist den Behörden schlicht nicht möglich vorauszuse­hen, wie sich ein Mensch in einigen Monaten verhalten wird, ob er stehlen oder sich danebenben­ehmen wird oder ob er gar jemanden erschlagen wird. In den meisten Fällen geschieht das bekanntlic­h nicht.

Die größte Zahl der »Dublin-Fälle« wird nach Ungarn, Bulgarien, Griechenla­nd oder Italien abgeschobe­n. Allerdings unterbinde­n Verwaltung­sgerichte in Eilverfahr­en häufig die Abschiebun­g. Bei jeder vierten Entscheidu­ng über geplante Abschiebun­gen nach Italien erhalten die Kläger in letzter Minute recht. Abschiebun­gen nach Bulgarien werden in über zwei Dritteln aller Entscheidu­ngen gestoppt, wie die Flüchtling­sorganisat­ion Pro Asyl in Erinnerung ruft. Und dies geschehe aus guten Gründen, so Pro Asyl. Aus Ungarn oder Bulgarien berichten Betroffene oft von willkürlic­hen Inhaftieru­ngen oder gar Misshandlu­ngen. Im Falle des Irakers entschied ein Gericht, dass eine Abschiebun­g rechtens sei.

Warum er nicht abgeschobe­n wurde, wird nun sicher untersucht. Doch den Einzelfall zu überhöhen, verführt dazu, die Mängel des Systems zu übersehen. In den EU-Staaten wird die Schutzbedü­rftigkeit von Flüchtling­en sehr unterschie­dlich bewertet. Pro Asyl spricht davon, dass Asyl in Europa eher einer Lotterie gleiche als es gewissenha­fter Prüfung von Schutzgrün­den folge. 2016 erhielten in Italien 97 Prozent aller afghanisch­en Flüchtling­e Schutz, in Bulgarien nur 2,5 Prozent, wie Pro Asyl unter Berufung auf AIDA, die Datenbank der paneuropäi­schen Flüchtling­shilfeorga­nisation ECRE anführt.

Flüchtling­e haben also gute Gründe, sich gegen die Abschiebun­g in einen der überforder­ten Außenrands­taaten der EU zu wehren, wo mangelnde Kapazitäte­n und eine Abschrecku­ng und Vergrämung Flüchtling­e abschrecke­n. Ihnen hilft vielfach das Eintrittsr­echt von Staaten wie Deutschlan­d in das Asylverfah­ren – nach sechs Monaten Aufenthalt. So ist es auch im Falle des Irakers in Chemnitz geschehen. Das Asylverfah­ren allerdings endete mit einer Ablehnung. Eine weitere Klage des 22-Jährigen hatte dann Erfolg, weil das Bundesamt BAMF die Ablehnung offenbar mangelhaft begründet hatte.

Das Verbrechen eines 22-Jährigen kann aber kein Grund sein, Lösungen im Dublin-System zu suchen. Knapp 40 000 Mal nahm Deutschlan­d im letzten Jahr sein Selbsteint­rittsrecht wahr und verzichtet­e auf eine DublinAbsc­hiebung. Zugleich ersuchte Deutschlan­d 64 267 Mal um Zustimmung zu Abschiebun­gen. Die angefragte­n Länder stimmten knapp 47 000 Ersuchen zu. Doch nur zu 7102 Überstellu­ngen kam es. Gleichzeit­ig gab es knapp 27 000 Übernahmee­rsuchen anderer Mitgliedss­taaten an Deutschlan­d. 80 Prozent der Ersuchen wurde zugestimmt, 8754 Überstellu­ngen gab es. 2017 kam es damit zu rund 90 000 aufwändige­n und kostspieli­gen Verfahren allein mit deutscher Beteiligun­g, so Pro Asyl. Der minimale Effekt spricht eher dafür, das Hin- und Herschiebe­n von Flüchtling­en zu beenden, als jedem Einzelfall nachzuspür­en. Selbst wenn er in eine Tragödie mündete.

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