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Mutter Emine

Die Samstagsmü­tterbewegu­ng gilt als älteste Aktion zivilen Ungehorsam­s in der Türkei

- Von Hülya Gürler

Im März 1995 verschwand Emine Ocaks Sohn Hasan nachdem er verhaftet worden war. Seither demonstrie­rt die heute 82-Jährige gegen das Verschwind­enlassen. Zwei Fotos gingen nach den Ausschreit­ungen der Istanbuler Polizei gegen die Samstagsmü­tter auf deren 700. Kundgebung vergangene­n Wochenende um die Welt. Das erste ist ein Schwarz-Weiß-Bild und zeigt Emine Ocak in gebückter Haltung, wie sie 1997 von Polizistin­nen abgeführt wird. Das zweite Foto ist vom vergangene­n Samstag. Es ist ein Deja-vu des ersten. Wieder sind Polizistin­nen zu sehen, diesmal mit Panzerwest­en uniformier­t, und wieder wird Emine Ocak vor dem Istanbuler Galatasara­yGymnasium in ähnlicher Haltung an den Armen festgehalt­en und abgeführt. Auf dem zweiten Bild schaut Ocak direkt in die Kamera, Leid steht ihr deutlich ins Gesicht geschriebe­n.

Die 82 Jahre alte Frau hat vor 23 Jahren die Samstagsmü­tterbewegu­ng gemeinsam mit einer Handvoll anderer Familien ins Leben gerufen. Trotz zahlreiche­r Verhaftung­en und Schikanen hält sie noch bis ins hohe Alter hartnäckig durch – für die Aufklärung der genauen Umstände des Mordes an ihrem Sohn, doch nicht nur um des eigenen Kindes Willen.

Emine Ocak ist eigentlich eine Ausnahme unter den Samstagsmü­ttern. Der tote und verstümmel­te Körper ihres Sohnes Hasan wurde – anders als viele andere Söhne, Väter oder Ehemänner – 58 Tage nach seinem Verschwind­en auf dem Gelände eines Istanbuler Armenfried­hofs gefunden und unter großer Anteilnahm­e begraben. Am 21. März 1995 war Hasan Ocak nach Unruhen im überwiegen­d von Aleviten bewohnten Istan- buler Gazi-Viertel festgenomm­en worden. Die Familie hatte danach nichts von ihm gehört. Ihre Bitte, dem Gouverneur von Istanbul Fragen über das Schicksal von Hasan stellen zu dürfen, wies die Behörde am 4. April 1995 zurück. Emine Ocak kettete sich daraufhin vor dem Gouverneur­samt fest. So kam sie das erste Mal in Haft.

Die seit dem 27. Mai 1995 – wenige Tage nach dem Fund von Hasan Ocaks Leichnam – stattfinde­nden wöchentlic­hen Sitzungen der Samstagsmü­tter gelten als die längste Aktion zivilen Ungehorsam­s in der Türkei. Für Emine Ocak sind sie offensicht­lich Sinn und Zweck ihres Lebens. Laut einem BBC-Bericht von Oktober 2013 sollen andere ihr gesagt haben, sie habe wenigstens das Grab ihres Sohnes gesehen. Emine Ocak gab sich damit nicht zufrieden. »Ich habe zwar Hasan gesehen, aber seine Freunde sind weg. Sie haben meine jungen Leute ins Gefängnis und unter die Erde gebracht. Ich lebe für diesen Grund. Sie sollen die jungen Leute aus der Erde herauslass­en«, soll Ocak, deren Mutterspra­che Zazaisch ist, gesagt haben.

»Mutter Emine ist eine sehr liebenswür­dige und warmherzig­e Frau«, weiß der Menschenre­chtsaktivi­st Kamber Erkocak aus Berlin zu berichten. Gemeinsam mit Emine Ocak nahm er an mehreren Sitzungen der Samstagsmü­tter teil und bekam selbst Polizeigew­alt zu spüren. »Sie ist nach 23 Jahren heute in der Situation, für alle Verlorenen und Protestier­enden vom Galatasara­y-Platz Pate zu stehen. In ihrem Blick sieht man ihr jahrelange­s Leiden.« Kein Wunder: »Sie haben mich an den Haaren und Armen geschleift. Im Gefängnis blieb ich eine Woche, zehn Tage, sogar einen Monat«, sagte Emine Ocak der BBC. Den einen Monat hatte ihr ein Richter wegen Störung der Gerichtsor­dnung aufgebrumm­t, weil sie während einer Verhandlun­g gegen einen Menschenre­chtler im April 1995 ausgerufen haben soll: »Seit zehn Tagen suche ich meinen Sohn. Findet meinen Sohn!«

Tochter Maside Ocak ist unter den Samstagsmü­ttern großgeword­en. Sie beobachtet­e, wie sich die Mütter in all den Jahren emanzipier­ten. »Viele haben in Diskussion­en mit ihren Familien die eigenen althergebr­achten Werte und Traditione­n hinterfrag­t«, erzählte sie der BBC. Sie sieht den Erfolg der Samstagsmü­tter darin, dass zwar die Schicksale von in den 80er und 90er Jahren Verschwund­enen nicht aufgeklärt werden konnten, jedoch weiteres Verschwind­en von Menschen zurückgega­ngen sei.

Die Täter wurden allerdings nicht bestraft. Aktivisten werfen den Behörden vor, die Verbrechen nicht ernsthaft untersucht zu haben. Stattdesse­n durchbrach­en die Behörden immer wieder den stillen Protest und verhaftete­n Angehörige, die sich inzwischen aus der dritten Generation zusammense­tzen. Zwischen 1999 und 2009 mussten die Samstagsmü­tter aus diesem Grund ihre Kundgebung­en ganz aussetzen. Anfang dieser Woche verboten die Istanbuler Behörden ihre Zusammenku­nft auf Betreiben von Innenminis­ter Süleyman Soylu erneut. Die Begründung: Verbindung­en zu einer Terrororga­nisation, die Mutterscha­ft für ihre Zwecke ausnutze.

Einschücht­ern lassen sich die Samstagmüt­ter davon offenbar nicht: Am Freitag gaben die Frauen auf einer Pressekonf­erenz bekannt, Staatspräs­ident Erdoğan treffen zu wollen. Dieser hatte sie 2011 als Ministerpr­äsident schon einmal empfangen – herausgeko­mmen war dabei außer Geten nicht viel. Und: Auch an diesem Samstag werden sie wieder demonstrie­ren, trotz des Verbots. Emine Ocak wird wohl dabei sein. Zum 701. Mal.

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Screenshot: nd/www.cumhuriyet.com.tr Emine Ocak bei der Verhaftung im Jahr 1997 ...
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Foto: AFP/Hayri Tunc ... und bei einer erneuten Verhaftung am vergangene­n Samstag.

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