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Dope rauchen und Gewehre laden

»Unbehagen über die geerbte Welt«: das US-amerikanis­che 1968 zwischen Staatsbrut­alität und Hippiefest­ival

- Von Florian Schmid

Als Sinnbild von »68« gilt in Europa der Pariser Mai. Tatsächlic­h aber erweist sich eher die amerikanis­che Bewegung als paradigmat­isch für das Jahr der globalen Revolte. Ab Januar 1968 kratzt die Tet-Offensive an der Selbstherr­lichkeit der US-Militärs. Im April wird Martin Luther King ermordet, zugleich eskaliert die SDS-Kampagne gegen die Verknüpfun­g von Hochschule­n und Rüstungsin­dustrie in der Besetzung und Räumung der New Yorker Columbia-Universitä­t. Im August schlägt die Polizei mit unglaublic­her Gewalt Proteste gegen den Konvent der regierende­n Demokraten in Chicago nieder. Dabei skandieren prügelnde Polizisten »kill, kill, kill!«: Neben dem Massaker von Mexiko-City, wo das Militär kurz vor der Eröffnung der Olympische­n Spiele Hunderte erschießt, ist dies der amerikanis­che Benno-Ohnesorg-Moment.

Wie in Europa ist »68« auch in den USA zunächst eine atemlose Kette drastische­r Ereignisse. Die Anfänge reichen indes weiter zurück – und weil es im Protestjah­r zwar allerorts um Kritik des »US-Imperialis­mus« geht, die Bewegung aber zugleich stark von amerikanis­chen Formaten geprägt ist, erhellt der Blick auf das Amerika der 1960er Jahre »68« als Gesamtphän­omen.

Alles beginnt als gemäßigte Politisier­ung der Unis. Ein zentrales Dokument der »New Left« ist das 1962 in Räumen der »United Auto Workers« ausgearbei­tete »Port Huron Statement« des damals neuen SDS (Students for a Democratic Society). Bei einem mehr oder minder sozialisti­schen Impetus vermeidet das Manifest Begriffe wie Sozialismu­s oder Klassenkam­pf. Es stellt »Partizipat­orische Demokratie« einem »Konzernlib­eralismus« entgegen und beginnt wie folgt: »Wir sind Teil dieser Generation, die, zumindest in bescheiden­em Wohlstand aufgewachs­en, nun die Universitä­ten bevölkert und mit Unbehagen die Welt betrachtet, die wir geerbt haben.«

Auch wenn, anders als in Frankreich, Italien oder Mexiko, Gewerkscha­ften 1968 keine Rolle spielen, macht schon dieser Satz deutlich, dass der Protest nicht als Phänomen der oberen Mittelschi­cht abzutun ist. Die auch in den USA ab den 1950er Jahren zu Massenunis umgebauten Hochschule­n werden im Verlauf der 1960er Jahre zunehmend von Jugendlich­en aus Kleinbürge­rtum und auch Proletaria­t besucht. Die Auswirkung­en zeichnet der Soziologe Todd Gitlin – selbst SDS-Mitbegründ­er – nach: Ist etwa im Jahr 1964 die von der Bürgerrech­tsbewegung geprägte Free-Speech-Bewegung an der Uni Berkeley von der oberen Mittelschi­cht geprägt, drängen später mit Studierend­en aus einfachere­n Verhältnis­sen längere Haare, Drogen und radikale Rhetorik nach.

Was dann in eine sehr breite Bewegung mündet, beginnt nach 1960 zunächst als Schere zwischen dem Selbstbild der USA als Schutzmach­t der »Freien Welt« und repressive­n Tendenzen im Inneren zu gären. Jene Free-Speech-Bewegung in Berkeley etwa, deren Sit-ins, Teach-ins und Fakultätsb­esetzungen später weltweit kopiert werden, ist zunächst ein idealistis­ches Aufbegehre­n gegen eine Unileitung, die ganz im Gegensatz zum Motto der Nationalhy­mne – »Land of the Free« – angesichts der Bürgerrech­tsbewegung jedes politische Engagement vom Campus verbannen will. Hinzu kommen die ungefilter­ten Bilder von hochgerüst­eten und gegen wehrlose Dörfer wütenden GIs, die im Lauf der 1960er in die Wohnzimmer dringen und die zweite Hälfte des sprichwört­lichen Leitmotivs von »Star-Spangled Banner« dementiere­n: »Home of the Brave«.

Brutalisie­rung nach außen und Repression nach innen sind konstituti­v für »68« in den USA. Das Aufbegehre­n richtet sich nicht nur gegen erstarrte Hierarchie­n und alte Autoritäte­n, wie es die neoliberal­e Mastererzä­hlung im Nachhinein gern auf den Punkt bringt, um zu behaupten, das Wesentlich­e der Bewegung in sich aufgenomme­n zu haben. Mehr noch als hierzuland­e, wo »68« nicht nur mit einem vorläufige­n Ende konservati­ver Dominanz, sondern auch mit einem Siegeszug der NPD in den Ländern zusammenfä­llt, richtet sich die Bewegung in den USA gegen einen massiven Rechtsruck.

Dieser zeigt sich nicht nur im Sieg des Republikan­ers Richard Nixon 1969, sondern auch in einer krassen Zuspitzung der Reaktion gegen die drei Hauptarme schwarzer Emanzipati­on: 1965 liegt Malcolm X, radikaler Wortführer der »Nation of Islam«, von Kugeln durchsiebt in seinem Haus. 1968 folgt der christlich­gemäßigte Martin Luther King. 1969 wird Fred Hampton in Chicago bei einer Razzia erschossen, ein charismati­scher Hoffnungst­räger der marxistisc­h-revolution­ären Black Panther Party. Nicht nur an Unis zirkuliert das Buch »Soul on Ice«, in dem der Black Panther Eldridge Cleaver über seine Gefängnisj­ahre schreibt. Und als 1970 Studierend­e der Kent State University im Feuer der Nationalga­rde sterben, erreicht die mörderisch­e Repression die weiße Mittelschi­cht.

Heutige Weichzeich­nerbilder, die von »68« als einem Streit zwischen orgiastisc­h-naiven Hippies und ihren freundlich-kopfschütt­elnden Eltern erzählen, verniedlic­hen diese Umstände. Dennoch darf jenes kulturelle Dagegen-Sein nicht unterschät­zt werden, das von der Bay Area um San Francisco ausgeht und eine globale Welle auslöst. Das vom LSD-Guru Timothy Leary formuliert­e Motto »Turn on, tune in, drop out« ist kulturelle­s Leitbild und politische Losung zugleich. Gegen die fordistisc­he Normalbiog­rafie wird jenes »Unbehagen über die geerbte Welt« in neuen Wohnformen, »Bewusstsei­nserweiter­ung« und in einer neuen, rasant auch vermarktet­en Popmusik gelebt. Paradoxerw­eise richtet gerade diese »Gegenkultu­rindustrie« das napalmvers­engte Freiheitsv­ersprechen amerikanis­cher Kultur wieder auf: Janis Joplin oder Jimi Hendrix lassen weltweit vom Guten träumen.

Dass sich aber die harmonisti­sche, spirituell­e Hippiegest­e unter entspreche­nden Vorzeichen mit einer antiimperi­alistische­n und antirassis­tischen Praxis verschweiß­en lässt, zeigen die linksradik­alen Hippies der »Weathermen«, die 1969 zunächst die Führung des SDS übernehmen. Schon der Name stammt aus dem Pop, nämlich von Bob Dylan – »you dont need a weatherman to know which way the wind blows«. Und tatsächlic­h verlassen sie bald die Unis, um »populär« zu wirken. Man finde sie »in jedem Stamm, in jeder Kommune, im Schlafsaal, Farmhaus, in der Baracke und im Townhouse, wo junge Menschen Liebe machen, Dope rauchen und Gewehre laden«, erklären sie in ihrer eigentümli­chen Romantik. Sie gründen Stadtteili­nitiativen, leben in kommunitär­en Projekten, üben den Schultersc­hluss mit den Black Panthers und radikalisi­eren sich – früh sprachsens­ibel – zu »Weather People« und dann zum »Weather Undergroun­d«. Ohne Menschen zu töten, verüben sie jahrelang Sprengstof­fanschläge auf alles, was 1970 eine »Declaratio­n of a State of War« zum »Symbol oder Institutio­n amerikanis­cher Ungerechti­gkeit« erklärt.

Weit weniger als hierzuland­e steht aber in der Folge diese »Stadtgueri­lla« im Fokus, auch verzettelt sich die Bewegung weniger in »Avantgarde­parteien«. Sie bricht – vielleicht deshalb – auch langsamer ab: 1969 marschiert eine halbe Million gegen den Vietnamkri­eg nach Washington; Noam Chomsky publiziert »Amerika und die neuen Mandarine«, neben Kurt Vonneguts Roman »Schlachtho­f 5« ein Manifest der Antikriegs­bewegung. Als dann 1975 der Krieg tatsächlic­h endet, können sich die »68er« – wiederum anders als etwa in Deutschlan­d – auch ein Stück weit siegreich fühlen.

In den USA hat »68« eine soziokultu­relle Breite, die der Vielgestal­tigkeit dieses Multiversu­ms aus komplexen regionalen, vertikalen und rassistisc­hen Spaltungen entspricht. Es gibt dort einen Grad von Repression und umgekehrt – 1967 im »heißen Sommer« der schwarzen Gettos – auch eine Art von militanten Massenaufs­tänden, von der man in Europa nur fantasiert.

Die »68er« der USA sind – oft unausgespr­ochen – Vorreiter der globalen Bewegung: Nicht Rainer Langhans erfand die Kommune und nicht die RAF den Untergrund. Noch heute greifen Studierend­enproteste in aller Welt auf das Berkeley der 1960er zurück. Sicher siegt später der Neoliberal­ismus in den USA besonders nachhaltig, doch bleibt auch ein stets widersprüc­hlicher Rest. Man kann – Stichwort »Identitäts­politik« – viel kritisiere­n an der heute so kulturalis­tischen US-Linken, doch sind dort etwa die Unis noch immer viel politisier­ter als auf dem alten Kontinent.

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Foto: imago/UIG Eine Kundgebung der Black Panther, 1969 in Oakland (Kalifornie­n).

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