nd.DerTag

Das Bürgertum verroht

Pogrome, Lager und Ertrunkene im Mittelmeer: Droht ein neuer Faschismus?

- Von Guido Speckmann

Was wir hier sehen, ist das Gesicht des Faschismus und durch Nichts zu rechtferti­gen«, twitterte der sächsische Grüne Jürgen Kasek am Montag anlässlich der Hetzjagden auf Migranten, Journalist­en und Antifaschi­sten in Chemnitz. Und er ergänzte: »Angesichts der vielen Neonazis und Hitlergrüß­e soll bitte heute keiner davon sprechen, dass es hier besorgte Bürger wären. Es sind Nazis.«

Doch für die Debatte über die drohende Gefahr eines neuen Faschismus hat es der pogromarti­gen Ereignisse in der sächsische­n Stadt gar nicht bedurft. Schon seit Mitte Juli wird in bürgerlich­en und linken Zeitungen darüber diskutiert. Den Anfang machte der »Tagesspieg­el«. In einem lan- gen und lesenswert­en Interview sprach die in Berlin lehrende Sozialwiss­enschaftle­rin Naika Foroutan von einer gesellscha­ftlichen Entwicklun­g, die in eine »präfaschis­tische Phase« weise. Wir befänden uns in einer Phase der »Zerstörung jener Errungensc­haften, die die 68er mit herbeigefü­hrt haben und die unser Verständni­s von Gleichbere­chtigung, sexueller Selbstbest­immung, Toleranz und Meinungsfr­eiheit maßgeblich verändert und beeinfluss­t haben.« Die strategisc­he Entmoralis­ierung der Gesellscha­ften durch die rechten Extremen gelinge, so Foroutan.

Ein markantes Beispiel für diese Entmoralis­ierung hatte ausgerechn­et jenes Blatt geliefert, das lange als li- berales Flaggschif­f galt: die »Zeit«. Die Wochenzeit­ung ließ tatsächlic­h ernsthaft die Frage diskutiere­n, ob es legitim sei, dass private Helfer Geflüchtet­e im Mittelmeer aus Seenot retten. Titel des Beitrags: »Oder soll man es lassen?«. Dies, so Foroutan, würde eine »moralische Erosion aufzeigen, die direkt zu europäisch­en Menschenla­gern in Nordafrika« führe.

Immerhin distanzier­te sich die Chefredakt­ion der »Zeit« angesichts der Empörungsw­elle umständlic­h von ihrer als Pro und Kontra aufgezogen­en Diskussion. Gut möglich, dass es auch einem schlechten Gewissen geschuldet war, dass die Redaktion wenig später die Warnung vor einer Wiederkehr des Faschismus aufgriff. In einem Beitrag hieß es, dass »die überbieten­de Rede von ›Rechtsbruc­h‹, ›Unrechtsst­aat‹ und ›illegaler Masseneinw­anderung‹, die in unterschie­dlicher Intensität seit 2015 von AfD und CSU geführt wird, präfaschis­tische Züge trägt«.

Und es ist ja keine Frage: Die Entwicklun­gen der letzten Jahre zeugen von einer Erosion des liberal-demokratis­chen Staates: Rechte Parteien zwingen sozialdemo­kratischen und konservati­ven Parteien ihre Politik auf – siehe Deutschlan­d – oder sie übernehmen wie in Ungarn, Österreich, Italien, den USA und vielen anderen gleich selbst Ministerpo­sten oder Präsidente­nämter. Völkisches Denken, Rassismus und Nationalis­mus feiern fröhlichen Urständ, repressive Funktionen des Staates werden ausgebaut, während Bürgerrech­te im Zeichen der islamistis­chen Terrorbekä­mpfung abgebaut werden. Aber macht es deshalb Sinn, von einer Faschisier­ung oder von präfaschis­tischen Zuständen zu reden?

Nur bedingt. Ein Blick auf den alten Faschismus soll das erklären. Sowohl in Italien – dem Ursprungsl­and des Faschismus – als auch in Deutschlan­d kamen faschistis­che Parteien in einer Krisensitu­ation der bürgerlich-kapitalist­ischen Staaten an die Macht – und zwar im Bündnis mit den traditione­llen Eliten aus Kapital, Bürgertum, Beamtentum und Militär. Die herrschend­e Klasse erhoffte sich infolge der Nachkriegs­wirren des Ersten Weltkriege­s in Italien bzw. infolge der Wirtschaft­skrise in Deutschlan­d einen Schutz vor sozialen Unruhen und eine Zerschlagu­ng der damals starken sozialisti­sch-kommunisti­schen Arbeiterbe­wegungen, die das Privateige­ntum an den Produktion­smitteln infrage stellten. Hierin wird denn auch von marxistisc­hen Autoren die soziale Funktion des Faschismus an der Macht gesehen: Konträr zum auch heute festzustel­lenden völkischen Antikapita­lismus faschistis­cher Bewegungen diente der Faschismus an der Macht zur Sicherung der herrschend­en Eigentumsv­erhältniss­e und zur Überwindun­g des Klassenkam­pfs durch Ultranatio­nalismus und Rassismus.

Gegenwärti­g ist eine sozialisti­sche Arbeiterbe­wegung weit und breit nicht zu sehen, der herrschend­en Klasse droht kein Klassenkam­pf von unten. Aus diesem Grund hat das Besitzbürg­ertum auch kein Interesse an einem Bündnis mit offen faschistis­chen Kräften. Kurzum: Versteht man den Faschismus vorwiegend als antimarxis­tisch und antikommun­istisch und als Form bürgerlich­er Herrschaft – so ist er heute ein historisch­es Phänomen.

Versteht man den Faschismus-Begriff aber als antidemokr­atische, nationalis­tische, antisemiti­sche und rassistisc­he Ideologie, fallen die Kontinuitä­tslinien sofort ins Auge. Entspreche­nde Ideologien der Ungleichhe­it sind zum Beispiel in Deutschlan­d nie verschwund­en. Davon zeugen Studien wie die der Friedrich-Ebert-Stiftung über extrem rechte Einstellun­gen. Aber organisato­rischen Ausdruck haben diese Ideologien nur selten in neofaschis­tischen Massenpart­eien mit paramilitä­rischen Gruppen gefunden. Am ehesten erinnerte die Jobbik-Partei in Ungarn noch an die faschistis­chen Bewegungen aus dem 20. Jahrhunder­t.

Man muss Nazis als solche bezeichnen, wenn sie es sind. Ebenso Faschisten. Wenn man die Bilder aus Chemnitz sieht, ist klar: An den Kundgebung­en und Hetzjagden waren überwiegen­d Nazis und Faschisten beteiligt. Aber auch viele Menschen, die man gerne »besorgte Bürger« nennt. Das ist zu unterschei­den. Was die Sache nicht besser macht, zeigt Chemnitz doch, dass das »verrohte Bürgertum«, von dem der Sozialfors­cher Wilhelm Heitmeyer schon fünf Jahre vor der großen Migrations­welle von 2015 sprach, keine Scheu mehr hat, zusammen mit Nazis zu demonstrie­ren; die Grenzen verwischen.

Inmitten von historisch­en Übergangsp­rozessen fehlt den Zeitgenoss­en die Distanz, diese richtig einordnen zu können. Auszuschli­eßen ist die Wiederkehr der faschistis­chen Machtoptio­n für die herrschend­e Klasse so- mit nie. So könnte der relative Abstieg der im 20. Jahrhunder­t führenden kapitalist­ischen Staaten zu Gefühlen nationaler Demütigung­en führen, die faschistis­chen Bewegungen Auftrieb verleihen. Denkbar auch, dass die Hundertmil­lionen von Menschen, die infolge des durch den industriel­len Kapitalism­us gemachten Klimawande­ls Einlass in die Staaten des globalen Nordens begehren, eine vergleichb­are Wirkung haben könnten.

Aber eine faschistis­che Gefahr, wie sie im 20. Jahrhunder­t existierte und sich in staatliche­r Gewalt materialis­ierte, scheint so schnell nicht zu drohen. Und das spricht auch dagegen, Begriffe wie Faschisier­ung und präfaschis­tisch zu benutzen. Ihr analytisch­er Gehalt ist gering – zumal ihre Verwendung zumindest bei den liberalen Warnern auf Rassismus und Antilibera­lismus beschränkt ist und das Verhältnis von Faschismus und kapitalist­ischer Herrschaft ausgeblend­et bleibt. Ihre Verwendung freilich ist verständli­ch. Mit diesen moralisch hoch aufgeladen­en Begriffen soll im Sinne des »Wehret den Anfängen« Widerstand gegen den verschärft­en Rechtstren­d mobilisier­t werden.

Gegenwärti­g droht kein Klassenkam­pf von unten. Aus diesem Grund hat das Besitzbürg­ertum auch kein Interesse an einem Bündnis mit offen faschistis­chen Kräften.

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