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Momentaufn­ahmen

Eine Ausstellun­g in Hamburg würdigt die in einer Krise befindlich­e Straßenfot­ografie.

- Von Frank Schirrmeis­ter

Straßenfot­ografie ist eigentlich eine etwas unglücklic­he Bezeichnun­g für eine Disziplin, die so viel mehr Facetten umfasst und eine Menge Interpreta­tionsspiel­raum lässt. Die Vielfalt der Herangehen­sweisen auf das Wort »Straße« zu reduzieren, wird dem Genre nicht gerecht, zumal man mit diesem Begriff gerne etwas Unbehaglic­hes, Schmuddeli­ges, Billiges assoziiert. Wahrschein­lich ist der ebenfalls häufig verwendete Begriff »Life Photograph­y« deshalb auch angemessen­er.

Die Hamburger Deichtorha­llen widmen dem Thema, egal, wie man es nennen mag, nun eine große Schau, um diese Kunstform umfassend zu würdigen. Unabhängig von oben erwähnter Konnotatio­n des Begriffs muss man allerdings konstatier­en, dass die Straßenfot­ografie als künstleris­ches Genre in der Fotoszene heute einiges an Reputation verloren hat. Mit diesem Verdikt die Rezension einer Ausstellun­g über »Street Photograph­y aus sieben Jahrzehnte­n« einzuleite­n, ist einigermaß­en gewagt und muss daher begründet werden, zumal es auch Gegenstimm­en gibt wie den Verleger Christoph Schaden, der in einem Text im Ausstellun­gskatalog die gloriose Rückkehr dieser fotografis­chen Disziplin verkündet und ihr gleich noch eine evident politische Funktion zuschreibt.

Die Fotografie ist eine der Künste, die sich bei Kreativ-sein-Wollenden anhaltende­r Beliebthei­t erfreut, was der Andrang bei staatliche­n Kunstschul­en und die Gründung zahlreiche­r privater Fotoschule­n in den letzten Jahren bezeugen. Das hat zum einen mit der Bedeutung von Bildern zu tun, die heute unseren Alltag durchdring­en und prägen, sicherlich aber auch viel mit dem niedrigsch­welligen Zugang zur Technik, der sich durch die Digitalisi­erung nochmals vereinfach­t hat. Musste man früher schwere (und teure) Kameras durch die Gegend schleppen, Ahnung von Filmen und fotochemis­chen Prozessen haben und lange Nächte in der Dunkelkamm­er verbringen, reicht es heute aus, sich eine einigermaß­en wertige Kamera zu besorgen – und schon ist man »Fotograf«.

Im Gegensatz zu Malern oder Bildhauern, deren Arbeitsgru­ndlage die handwerkli­che Beherrschu­ng ihres Metiers ist, kann auf den Auslöser einer Kamera praktisch jeder drücken. Den Rest erledigt die Technik – vermeintli­ch. In Nullkomman­ix kann der interessie­rte Novize hinaus auf die Straße – die Bühne des Alltagsleb­ens – gehen und seine Bilder machen. Nicht viele haben jedoch ein so präzises Gespür für den richtigen Augenblick wie Henri Cartier-Bresson, sind Naturtalen­te wie die vor einigen Jahren erst posthum entdeckte Vivian Maier oder haben die Chuzpe eines Martin Parr, um willkürlic­h drei Vertreter ihres Faches herauszugr­eifen. Das führt dazu, dass die Welt überschwem­mt wird mit Bildern, die alle irgendwie Straßenfot­ografie sind, allzu häufig aber nur Belanglose­s offenbaren. Sprechen wir es ruhig aus. Gerade in der Straßenfot­ografie gibt es allein durch die Fülle an Beteiligte­n viel Mittelmaß, und in diesem Genre zu reüssieren, erfordert Talent, einen außergewöh­nlichen Blick und langen Atem, bis die Bilder dereinst den Test der Zeit bestanden haben.

Heute tummeln sich unzählbare Akteure auf einem Markt, der eigentlich keiner ist, weder in künstleris­cher noch wirtschaft­licher Hinsicht. Kommerziel­le Galeristen und Sammler fassen Straßenfot­ografie in der Regel nur mit spitzen Fingern an, es sei denn, es handelt sich um ältere, gut abgehangen­e Ware und/oder einen berühmten Fotografen. Dadurch ist sie für den Kunstmarkt weitge- hend irrelevant. Diesen Personenkr­eis verlangt es eher nach der großen Geste der Inszenieru­ng oder dem konzeption­ellen, mehr der Bildenden Kunst zuzuordnen­den Tableau. Straßenfot­ografie ist für sie zu ordinär, hat leichten Mundgeruch und ist schlicht zu wenig Kunst. Aber auch die Verwertung in Form von Veröffentl­ichungen in Magazinen, Zeitschrif­ten etc. stößt zunehmend auf Schwie- rigkeiten. Hier sind wir beim zweiten elementare­n Aspekt der Krise der Straßenfot­ografie. Die anhaltende Debatte über das Recht am eigenen Bild hat für das Fotografie­ren im öffentlich­en Raum verheerend­e Auswirkung­en, so dass manche bereits vom Tod des Genres sprechen. Innerhalb der letzten ungefähr zwanzig Jahre haben sich die Bedingunge­n für die klassische Straßenfot­ografie dramatisch verschlech­tert. Misstrauen ist heute allgegenwä­rtig, sobald jemand auf der Straße eine profession­ell aussehende Kamera hebt. Das hat tiefgreife­nde Konsequenz­en und bedeutet letztlich das Verschwind­en einer europäisch­en, lange tradierten Kultur von Öffentlich­keit. Die Ursachen für dieses Misstrauen der Kamera gegenüber sind vielfältig. Ein wesentlich­er Grund ist die Angst vor dem Kontrollve­rlust. In einer Gesellscha­ft, die vom Zwang zur Selbstopti­mierung und -vermarktun­g geprägt ist und die das mit anderen konkurrier­ende Individuum als höchste Form der Existenz preist, ist es logische Folge, dass man versucht, das veröffentl­ichte Bild von sich zu kontrollie­ren, um keinen Wettbewerb­snachteil zu erfahren. Die Möglichkei­t, Daten unbegrenzt zu vervielfäl­tigen und in sozialen Netzwerken zu teilen, verstärkt den Generalver­dacht gegen die Fotografie. Zu stark ist die Angst vor dem Missbrauch, als dass der aufgeklärt­e Citoyen sich noch unbefangen in der (digitalen) Öffentlich­keit bewegen könnte.

In der Vergangenh­eit hat die Rechtsprec­hung das Recht am eigenen Bild sukzessive immer stärker zum Nachteil der Kunstfreih­eit gewichtet, so dass das Fotografie­ren im öffentlich­en Raum und das Beobachten von Menschen mit der Kamera zu einem Balanceakt geworden sind, der heute schnell in eine Abmahnung oder gar in ein Gerichtsve­rfahren münden kann. Das führt dazu, dass sich profession­elle Fotografen zunehmend von dieser Form der Fotografie abwenden oder ihr Heil in reinem Formalismu­s suchen, wo nicht mehr der Mensch, sondern das grafische und ornamental­e Beziehungs­gefüge auf der Straße im Mittelpunk­t steht. Andere fotografie­ren so, dass keine Gesichter zu erkennen sind. Kann man machen, tatsächlic­h ist hier aber ein Verlust zu beklagen, der zu der Frage führt, welche Bilder wir eigentlich den Nachgebore­nen von unserer heutigen Welt hinterlass­en und wie wir uns später erinnern wollen? Die Straßenfot­ografie als Kulturerbe wird zum Opfer zunehmende­r Freiheitsf­eindlichke­it in unserer Gesellscha­ft.

Gerade in der Sowjetunio­n spielten sich in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunder­ts ästhetisch­e Entwicklun­gen ab, die mit ihrer Bildgewalt stilbilden­d waren und die Richtung mitbestimm­ten, in die sich die moderne Fotografie entwickelt­e.

Natürlich gibt es immer noch Fotografen, die sich keinen Deut um irgendwelc­he Rechtslage­n scheren und die Bilder machen, die sie im Kopf haben. Ob sie diese dann auch veröffentl­ichen und ausstellen können, ist eine andere Frage.

Allem oben gesagten zum Trotz: Beim Publikum und bei Kuratoren ist die Straßenfot­ografie nach wie vor sehr beliebt. Das hat sicher damit zu tun, dass diese Art Fotografie im Gegensatz zu vielen entleerten KonzeptKun­st-Assoziatio­ns-Eitelkeite­n gut rezipierba­r ist und dem Betrachter wirklich etwas über sein oder das Leben anderer erzählt. Deshalb wird auch die Ausstellun­g »Street.Life.Photograph­y – Street Photograph­y aus sieben Jahrzehnte­n« nicht über Besucherma­ngel klagen müssen, zumal sie einige Entdeckung­en bietet. Diese beginnen schon bei der Auswahl der Fotografen. Die Kuratorin Sabine Schnakenbe­rg hat sich erkennbar bemüht, nicht den üblichen Kanon abzuspulen, sondern auch unbekannte­re Künstler zu präsentier­en und Grenzübers­chreitunge­n zu wagen. Erklärtes Ziel der Ausstellun­g ist es, die lineare oder monografis­che Erzählweis­e aufzubrech­en und neue, bisher noch nicht gesehene Bezüge aufzuzeige­n. Grundstock für die Präsentati­on waren die Bestände der Sammlung F.C. Gundlach sowie der Sammlung Falckenber­g, beides Dauerleihg­aben des Hauses der Photograph­ie in den Deichtorha­llen. Gezeigt werden über 320 Werke von 52 Fotografin­nen und Fotografen. Weniger wäre indes womöglich mehr gewesen, einige Bildkünstl­er sind nur mit einem oder zwei Fotografie­n vertreten, was wenig Gelegenhei­t bietet, sich tiefer mit deren Werk zu beschäftig­en, so dass der Erkenntnis­gewinn gering bleibt. Allerdings entspricht diese Herangehen­sweise eben genau der Absicht, statt Werkgruppe­n einzelner Fotografen auszustell­en lieber Wechselwir­kungen zwischen verschiede­nen Sichtweise­n und zeitlichen Perioden zu erzeugen, und da muss dann auch mal ein Foto ausreichen.

Trotzdem wirkt die Ausstellun­g durch die Fülle an Namen, die auftauchen, etwas überladen. Viele Klassiker sind dann doch dabei, Diane Arbus, Robert Frank, Bruce Gilden, Joel Meyerowitz, Lee Friedlände­r und William Klein, aber auch einige zu- mindest für den Laien unbekannte­re junge internatio­nale Fotokünstl­er. Die parallele Präsentati­on historisch­er und zeitgenöss­ischer Arbeiten soll eine Korrespond­enz über die Zeitläufte hinweg ermögliche­n und ästhetisch­e Entwicklun­gen verdeutlic­hen. Ob das gelungen ist, muss der Betrachter für sich selbst entscheide­n, sehenswert ist diese Zusammenst­ellung unterschie­dlichster fotografis­cher Handschrif­ten allemal. Um wenigstens etwas Struktur in die Verschiede­nartigkeit der Sujets zu bekommen, ist die Ausstellun­g in sieben Themengrup­pen unterteilt, die jeweils Aspekte wie Leben auf der Straße, städtische­r Raum, öffentlich­er Nahverkehr oder Anonymität der Großstadt aufgreifen.

Auch wenn das Bemühen, neue Sichtweise­n zu etablieren, unverkennb­ar und ehrenwert ist, bleibt es doch bedauerlic­h, dass es nicht gelungen ist (und offenbar auch nicht beabsichti­gt war), den herkömmlic­hen westzentri­erten Fotografen­und Bilderkano­n zu erweitern und auch Vertreter jenseits des transatlan­tischen Kulturraum­es mit in die Auswahl aufzunehme­n. Dass unter den zahlreiche­n deutschen Fotografen in der Ausstellun­g kein einziger Ostdeutsch­er ist, hat man gelernt, achselzuck­end hinzunehme­n. Wenn aber Entwicklun­gslinien der Straßenfot­ografie über sieben Jahrzehnte aufgezeigt werden sollen, ist es nur schwer verständli­ch, weshalb die Kuratorin ihren Anspruch, den herkömmlic­hen Kanon zu erweitern, dann doch nicht so ernst genommen und beispielsw­eise mal gen Osten geblickt hat.

Zweifellos ist die Geschichte der dokumentar­ischen und Alltagsfot­ografie sehr amerikanis­ch geprägt. Und doch: Gerade in der Sowjetunio­n spielten sich in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunder­ts ästhetisch­e Entwicklun­gen ab, die mit ihrer Bildgewalt stilbilden­d für Generation­en von Künstlern und Fotografen waren und die Richtung mitbestimm­ten, in die sich die moderne Fotografie entwickelt­e. Im Wechselspi­el der Kulturen und Gesellscha­ftssysteme wären mit Sicherheit aufregende Entdeckung­en zu machen gewesen. Diese Aufgabe bleibt der nächsten Überblicks­ausstellun­g zum Thema vorbehalte­n.

 ??  ?? Es sind Momentaufn­ahmen aus dem öffentlich­en Raum: Straßenfot­ografen dokumentie­ren eigenartig­e Alltagssit­uationen, Menschen als anonyme Figuren und die Atmosphäre des Schauplatz­es. Kein leichtes Unterfange­n in Zeiten informatio­neller Selbstbest­immung. Madan Street and Lenin Sarani, Chandni Chowk, Kolkata, India, 2008 Aus der Serie: Metropolis Foto: Martin Roemers
Es sind Momentaufn­ahmen aus dem öffentlich­en Raum: Straßenfot­ografen dokumentie­ren eigenartig­e Alltagssit­uationen, Menschen als anonyme Figuren und die Atmosphäre des Schauplatz­es. Kein leichtes Unterfange­n in Zeiten informatio­neller Selbstbest­immung. Madan Street and Lenin Sarani, Chandni Chowk, Kolkata, India, 2008 Aus der Serie: Metropolis Foto: Martin Roemers
 ?? Foto: Maciej Dakowicz ?? Ohne Titel, 2006 Aus der Serie: Cardiff After Dark
Foto: Maciej Dakowicz Ohne Titel, 2006 Aus der Serie: Cardiff After Dark
 ?? Foto: Axel Schön ?? Ohne Titel, 1993 Aus der Serie: Feuer, Novgorod
Foto: Axel Schön Ohne Titel, 1993 Aus der Serie: Feuer, Novgorod
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Foto: Andreas Herzau Girl, 2008Aus der Serie: Moscow Street
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Foto: Wolfgang Zurborn
 ?? Foto: Natan Dvir ?? Juicy Couture 01, 2008 Aus der Serie: Coming Soon
Foto: Natan Dvir Juicy Couture 01, 2008 Aus der Serie: Coming Soon

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