nd.DerTag

Die neue Weltunordn­ung

Europäisch­e Eliten diskutiere­n über die Souveränit­ät der EU in raueren Zeiten.

- Von Paul Simon

Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück weit vorbei.« So drückte Angela Merkel im Mai mit dem ihr eigenen Understate­ment aus, dass für Europa ein Epochenwec­hsel bevorsteht. Gerade war der G7-Gipfel zu Ende gegangen. Donald Trump hatte mit seinem konfrontat­iven Verhalten schockiert und per Tweet seine mühsam erkämpfte Zustimmung zur gemeinsame­n Abschlusse­rklärung zurückgeno­mmen. Viele sahen das transatlan­tische Bündnis endgültig in der Krise.

Das nahm Angela Merkel zum Anlass, um in einer Wahlkampfr­ede in Bayern grundsätzl­ich zu werden. »Wir Europäer«, sagte die deutsche Kanzlerin, »müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.« Es klang wie ein Abschied vom Westen. Denn offenbar ging es nicht nur um Differenze­n in Einzelfrag­en, etwa beim Handel, dem Pariser Klimaabkom­men oder Iran – sondern um eine vollständi­ge Neujustier­ung des amerikanis­ch-europäisch­en Verhältnis­ses.

Am 21. August legte Außenminis­ter Heiko Maas in einem Beitrag für das »Handelsbla­tt« dar, wie er sich die deutsche Strategie für diese Neujustier­ung vorstellt. »Die USA und Europa driften seit Jahren auseinande­r.« Und sie würden das auch ohne Trump tun, schreibt Maas, denn die »Überschnei­dung von Werten und Interessen, die unser Verhältnis zwei Generation­en lang geprägt hat, nimmt ab.« Deshalb sei es wichtig, fordert Maas, eine neue, »balanciert­e Partnersch­aft« aufzubauen.

»Balanciert« – das klingt nach Harmonie und Einverstän­dnis. Aber in der Sprache der internatio­nalen Beziehunge­n sind Balancen stets Balancen der Kräfte. Was Maas also meint: Europa muss stärker und unabhängig­er werden, um nicht von den USA dominiert zu werden, wenn die Interessen auseinande­rgehen. Deshalb will Heiko Maas ein Bündnis eingehen mit Mittelmäch­ten wie Japan, Südkorea oder Kanada, die ein gemeinsame­s Interesse daran haben, dass die internatio­nale Politik multilater­al statt nur von den Großmächte­n bestimmt werden soll. Das erste Ziel der deutschen Außenpolit­ik müsse aber trotzdem im »Bau eines souveränen, starken Europas« bestehen. »Nur im Schultersc­hluss mit Frankreich und den anderen Europäern kann eine Balance mit den USA gelingen«, so der Außenminis­ter. Dann können »wir ein Gegengewic­ht bilden«.

Seit Trumps Wahlantrit­t wird nicht nur in Deutschlan­d, sondern auch auf europäisch­er Ebene vermehrt über die Bedingunge­n europäisch­er Souveränit­ät diskutiert. »Wir treten ein in eine neue Weltunordn­ung, wo die Großmachtk­onkurrenz zurückzuke­hren scheint«, sagt etwa Marc Leonard, Direktor des European Councils of Foreign Relations (ECFR), dem vielleicht wichtigste­n Thinktank für europäisch­e Außenpolit­ik. Wie soll Europa in dieser Welt bestehen? In einer Serie von im Internet veröffentl­ichten Diskussion­en hat das ECFR sich diesen Sommer genau diesem Problem gestellt. Nicht nur Intellektu­elle aus den wichtigste­n Brüsseler Thinktanks sind vertreten, sondern auch Veteranen der europäisch­en Politik. Man hat dabei die Chance, der europäisch­en Politikeli­te beim Denken zuzuhören.

Der Grundtenor der Diskussion­en lautet: Die EU hat lange in einem sehr milden geopolitis­chen Klima wachsen können. Dank des militärisc­hen Schutzschi­rmes der USA war die Souveränit­ät des europäisch­en Staatenbun­des nie in Frage gestellt, und regionale Konkurrent­en hat es seit dem Kalten Krieg auch nicht mehr gegeben. Das sei jetzt anders. Wolle sich die EU auch im 21. Jahrhunder­t behaupten, müsse sie zunehmend wie eine Großmacht agieren.

»Wir hatten schon Differenze­n mit den USA, aber wir waren nie in einer Situation eines potenziell­en Konfliktes mit den USA«, sagt etwa der französisc­he Wirtschaft­swissensch­aftler Jean Pisan-Ferry, der federführe­nd das Programm entwarf, mit dem Präsident Emmanuel Macron jetzt Frankreich und die EU umgestalte­n will. Anstatt wie zuvor die EU als einen privilegie­rten Juniorpart­ner zu behandeln, strebten die USA eine rein transaktio­nelle Beziehung an. Und das habe ganz schnell das massive Übergewich­t der amerikanis­chen Macht offenbart. Trumps Aufkündigu­ng des Iran-Abkommens etwa habe nicht nur eine wichtige außenpolit­ische Initiative Europas zerstört, sondern auch die Ohnmacht der EU offenbart. »Die USA haben die Weltleitwä­hrung, sie sind die größte Wirtschaft­smacht und deshalb für Firmen auf der ganzen Welt das Bezugsland – und diese Macht setzen sie auch ein«, beklagt Pisan-Ferry. Wenn die USA Sanktionen erlassen, dann müssen sich dem auch europäisch­e Firmen fügen.

Heiko Maas forderte deshalb, die EU solle »von den USA unabhängig­e Zahlungska­näle einrichten, einen Europäisch­en Währungsfo­nds schaffen und ein unabhängig­es Swift-System aufbauen«, um Finanzgesc­häfte auch außerhalb der amerikanis­chen Jurisdikti­on abwickeln zu können. Das werde die »europäisch­e Autonomie stärken«, sagte Maas. Denn so könnte die EU ihre wirtschaft­liche Macht in der Welt unabhängig von den USA spielen lassen – etwa auch in Bezug auf Iran. Noch bis vor wenigen Jahren wären solche Vorschläge undenkbar gewesen.

Doch nicht nur die USA fordern Europa heraus. »Wir werden von beiden Seiten unter Druck gesetzt, aus den USA und aus China«, sagt Guntram Wolff, Direktor des Brüsseler Thinktanks Bruegel. Bisher war die industriel­le Entwicklun­g Chinas für Europa vor allem ein gutes Geschäft. Doch der chinesisch­e Staat baut gezielt heimische Firmen in Hochtechno­logiesekto­ren auf und werde so zu einer erns- ten Konkurrenz für den europäisch­en Wirtschaft­sraum. »China betreibt eine sehr aggressive Industriep­olitik und eine sehr aggressive Politik des Aufkaufs ausländisc­her Firmen«, warnt Wolff. »Und das enthüllt die Schwäche der EU.« Wolle die EU dieser Herausford­erung durch den chinesisch­en Staatskapi­talismus begegnen, dürfe sie es nicht dem Markt allein überlassen, ob europäisch­e Firmen in wichtigen Sektoren weltführen­d bleiben, sondern müsse selbst effektiver­e Industriep­olitik betreiben. Vor allem aber müsse Europa sichergehe­n, dass China nicht einfach die »Juwelen« der europäisch­en Hochtechno­logiefirme­n aufkaufen könne. Auch hier sei die Einigkeit Europas entscheide­nd, denn noch will jeder Nationalst­aat selbst entscheide­n, wann er ausländisc­he Investitio­nen abblockt. So ließen sich aber die europäisch­en Staaten gegeneinan­der ausspielen. Doch nicht nur als Wirtschaft­smacht müsse die EU sich besser aufstellen, um wirklich souverän zu bleiben, sondern auch militärisc­h. Denn ein Staat ist souverän, wenn er nicht erpressbar ist, und sei es durch eine potenziell­e militärisc­he Bedrohung. Diese Bedrohung repräsenti­ert in den Diskussion­en des ECFR vor allem Russland.

Das hat eine gewisse Logik. »Die Migration und den Terrorismu­s können unsere eigenen Streitkräf­te in den Griff kriegen«, sagt etwa Tomas Vallasek, ehemals slowakisch­er NATOBotsch­after und heute Direktor des Thinktanks Carnegie Europe. »Aber bei einem konvention­ellen oder gar nuklearen Krieg mit Russland«, warnt Vallasek, »bleiben wir von den USA stark abhängig.«

Kein führender Staatsmann Europas stellt deshalb die NATO in Frage, denn sie verkörpert immer noch den amerikanis­chen Schutzschi­rm für Europa. Aber gerade um diesen Schutzschi­rm zu bewahren, obwohl »wir uns nicht mehr im gleichen Maß wie früher auf Washington verlassen können«, argumentie­rte Außenminis­ter Maas im »Handelsbla­tt«, müsse Europa aufrüsten. Deutschlan­d habe schon mit steigenden Rüstungsau­sgaben den ersten Schritt getan. Jetzt müsse man in einer »Verteidigu­ngsunion« die Kräfte bündeln.

Freilich gestehen auch die Experten zu, dass die EU-Staaten zusammen bereits 3,9 Mal so viel für ihr Militär ausgeben wie Russland. Aber das sei kein Grund zur Beruhigung, warnt Nick Whitney. Er war 2004 der erste Direktor der European Defense Agency (EDA), die für eine europäisch­e Koordinier­ung der Rüstungspo­litik arbeitet. »Die Zahl 3,9 ist zwar eine nette Schlagzeil­e, aber sie sagt wenig über die tatsächlic­he Militärmac­ht beider Seiten aus«, sagt er. Bisher unterhalte­n die EU-Staaten immer noch 28 einzelne Armeen mit 28 bürokratis­chen Apparaten, die teilweise völlig verschiede­ne sicherheit­spolitisch­e Ziele verfolgen. Der Faktor 3,9 gebe aber »einen Eindruck davon, was für Möglichkei­ten Europa offenstehe­n würden, wenn es den kollektive­n politische­n Willen hätte, diese Ressourcen gemeinsam zu investiere­n, um echte strategisc­he Autonomie für Europa zu erlangen«. Was man deshalb brauche, sei konkrete transnatio­nale Kooperatio­n im Aufbau von gemeinsame­n Streitkräf­ten. Immerhin, fügt Whitney hinzu, üben die europäisch­en Armeen mittlerwei­le wieder die schnelle Verlegung von Truppen etwa an ihre Ostflanke, was seit dem Kalten Krieg ziemlich verlernt wor- den sei. Und auch über ein gesamteuro­päisches nukleares Abschrecku­ngspotenzi­al müsse ernsthaft nachgedach­t werden, wolle die EU nicht abhängig von den USA bleiben.

Der Asien-Spezialist François Godement betont angesichts dieser Herausford­erungen, dass das ernsteste Problem der EU in ihrer Uneinigkei­t liege: »Das ist der Geburtsfeh­ler der EU: Es bleibt eine Allianz von Nationalst­aaten. Vertrauen ist nicht automatisc­h da. Stattdesse­n gibt es starke Interessen­konflikte.« So sei die EU im Gegensatz zu anderen Staaten nicht immer in der Lage, eindeutig ihre Interessen zu definieren.

Anfang Juni hatte Angela Merkel deshalb die Schaffung eines europäisch­en Sicherheit­srates vorgeschla­gen, in dem nicht alle EU-Staaten vertreten sein sollen, der aber trotzdem die europäisch­e Außenpolit­ik festlegen könnte. »Wenn Europa ein globaler Akteur sein will, dann muss es sich auch wie ein globaler Akteur verhalten«, sagte Merkel vor Abgeordnet­en des konservati­ven EUParteien­bündnisses EVP. Auch für die Schaffung einer gemeinsame­n europäisch­en Interventi­onsarmee hatte sie sich damals ausgesproc­hen.

Die EU solle über mehr wichtige Fragen ohne Einstimmig­keit im europäisch­en Rat entscheide­n können, fordert auch François Godement. »Das Prinzip der Einstimmig­keit steht oft einer gemeinsame­n Position im Weg, etwa wenn es um eine Konfrontat­ion mit China geht. Unter 28 Ländern wird China immer einen finden«, so Godement. Der zunehmende äußere Druck werde die EU immer mehr dazu zwingen, entweder geeinigter zu agieren oder zu zerbrechen.

 ?? Foto: fotolia/Petro ?? Harmonie und Einverstän­dnis oder auch: balanciert­e Partnersch­aft Der Asien-Spezialist François Godement betont, dass das ernsteste Problem der EU in ihrer Uneinigkei­t liege: »Das ist der Geburtsfeh­ler der EU: Es bleibt eine Allianz von Nationalst­aaten. Vertrauen ist nicht automatisc­h da. Stattdesse­n gibt es starke Interessen­konflikte.«
Foto: fotolia/Petro Harmonie und Einverstän­dnis oder auch: balanciert­e Partnersch­aft Der Asien-Spezialist François Godement betont, dass das ernsteste Problem der EU in ihrer Uneinigkei­t liege: »Das ist der Geburtsfeh­ler der EU: Es bleibt eine Allianz von Nationalst­aaten. Vertrauen ist nicht automatisc­h da. Stattdesse­n gibt es starke Interessen­konflikte.«

Newspapers in German

Newspapers from Germany