Die neue Weltunordnung
Europäische Eliten diskutieren über die Souveränität der EU in raueren Zeiten.
Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück weit vorbei.« So drückte Angela Merkel im Mai mit dem ihr eigenen Understatement aus, dass für Europa ein Epochenwechsel bevorsteht. Gerade war der G7-Gipfel zu Ende gegangen. Donald Trump hatte mit seinem konfrontativen Verhalten schockiert und per Tweet seine mühsam erkämpfte Zustimmung zur gemeinsamen Abschlusserklärung zurückgenommen. Viele sahen das transatlantische Bündnis endgültig in der Krise.
Das nahm Angela Merkel zum Anlass, um in einer Wahlkampfrede in Bayern grundsätzlich zu werden. »Wir Europäer«, sagte die deutsche Kanzlerin, »müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.« Es klang wie ein Abschied vom Westen. Denn offenbar ging es nicht nur um Differenzen in Einzelfragen, etwa beim Handel, dem Pariser Klimaabkommen oder Iran – sondern um eine vollständige Neujustierung des amerikanisch-europäischen Verhältnisses.
Am 21. August legte Außenminister Heiko Maas in einem Beitrag für das »Handelsblatt« dar, wie er sich die deutsche Strategie für diese Neujustierung vorstellt. »Die USA und Europa driften seit Jahren auseinander.« Und sie würden das auch ohne Trump tun, schreibt Maas, denn die »Überschneidung von Werten und Interessen, die unser Verhältnis zwei Generationen lang geprägt hat, nimmt ab.« Deshalb sei es wichtig, fordert Maas, eine neue, »balancierte Partnerschaft« aufzubauen.
»Balanciert« – das klingt nach Harmonie und Einverständnis. Aber in der Sprache der internationalen Beziehungen sind Balancen stets Balancen der Kräfte. Was Maas also meint: Europa muss stärker und unabhängiger werden, um nicht von den USA dominiert zu werden, wenn die Interessen auseinandergehen. Deshalb will Heiko Maas ein Bündnis eingehen mit Mittelmächten wie Japan, Südkorea oder Kanada, die ein gemeinsames Interesse daran haben, dass die internationale Politik multilateral statt nur von den Großmächten bestimmt werden soll. Das erste Ziel der deutschen Außenpolitik müsse aber trotzdem im »Bau eines souveränen, starken Europas« bestehen. »Nur im Schulterschluss mit Frankreich und den anderen Europäern kann eine Balance mit den USA gelingen«, so der Außenminister. Dann können »wir ein Gegengewicht bilden«.
Seit Trumps Wahlantritt wird nicht nur in Deutschland, sondern auch auf europäischer Ebene vermehrt über die Bedingungen europäischer Souveränität diskutiert. »Wir treten ein in eine neue Weltunordnung, wo die Großmachtkonkurrenz zurückzukehren scheint«, sagt etwa Marc Leonard, Direktor des European Councils of Foreign Relations (ECFR), dem vielleicht wichtigsten Thinktank für europäische Außenpolitik. Wie soll Europa in dieser Welt bestehen? In einer Serie von im Internet veröffentlichten Diskussionen hat das ECFR sich diesen Sommer genau diesem Problem gestellt. Nicht nur Intellektuelle aus den wichtigsten Brüsseler Thinktanks sind vertreten, sondern auch Veteranen der europäischen Politik. Man hat dabei die Chance, der europäischen Politikelite beim Denken zuzuhören.
Der Grundtenor der Diskussionen lautet: Die EU hat lange in einem sehr milden geopolitischen Klima wachsen können. Dank des militärischen Schutzschirmes der USA war die Souveränität des europäischen Staatenbundes nie in Frage gestellt, und regionale Konkurrenten hat es seit dem Kalten Krieg auch nicht mehr gegeben. Das sei jetzt anders. Wolle sich die EU auch im 21. Jahrhundert behaupten, müsse sie zunehmend wie eine Großmacht agieren.
»Wir hatten schon Differenzen mit den USA, aber wir waren nie in einer Situation eines potenziellen Konfliktes mit den USA«, sagt etwa der französische Wirtschaftswissenschaftler Jean Pisan-Ferry, der federführend das Programm entwarf, mit dem Präsident Emmanuel Macron jetzt Frankreich und die EU umgestalten will. Anstatt wie zuvor die EU als einen privilegierten Juniorpartner zu behandeln, strebten die USA eine rein transaktionelle Beziehung an. Und das habe ganz schnell das massive Übergewicht der amerikanischen Macht offenbart. Trumps Aufkündigung des Iran-Abkommens etwa habe nicht nur eine wichtige außenpolitische Initiative Europas zerstört, sondern auch die Ohnmacht der EU offenbart. »Die USA haben die Weltleitwährung, sie sind die größte Wirtschaftsmacht und deshalb für Firmen auf der ganzen Welt das Bezugsland – und diese Macht setzen sie auch ein«, beklagt Pisan-Ferry. Wenn die USA Sanktionen erlassen, dann müssen sich dem auch europäische Firmen fügen.
Heiko Maas forderte deshalb, die EU solle »von den USA unabhängige Zahlungskanäle einrichten, einen Europäischen Währungsfonds schaffen und ein unabhängiges Swift-System aufbauen«, um Finanzgeschäfte auch außerhalb der amerikanischen Jurisdiktion abwickeln zu können. Das werde die »europäische Autonomie stärken«, sagte Maas. Denn so könnte die EU ihre wirtschaftliche Macht in der Welt unabhängig von den USA spielen lassen – etwa auch in Bezug auf Iran. Noch bis vor wenigen Jahren wären solche Vorschläge undenkbar gewesen.
Doch nicht nur die USA fordern Europa heraus. »Wir werden von beiden Seiten unter Druck gesetzt, aus den USA und aus China«, sagt Guntram Wolff, Direktor des Brüsseler Thinktanks Bruegel. Bisher war die industrielle Entwicklung Chinas für Europa vor allem ein gutes Geschäft. Doch der chinesische Staat baut gezielt heimische Firmen in Hochtechnologiesektoren auf und werde so zu einer erns- ten Konkurrenz für den europäischen Wirtschaftsraum. »China betreibt eine sehr aggressive Industriepolitik und eine sehr aggressive Politik des Aufkaufs ausländischer Firmen«, warnt Wolff. »Und das enthüllt die Schwäche der EU.« Wolle die EU dieser Herausforderung durch den chinesischen Staatskapitalismus begegnen, dürfe sie es nicht dem Markt allein überlassen, ob europäische Firmen in wichtigen Sektoren weltführend bleiben, sondern müsse selbst effektivere Industriepolitik betreiben. Vor allem aber müsse Europa sichergehen, dass China nicht einfach die »Juwelen« der europäischen Hochtechnologiefirmen aufkaufen könne. Auch hier sei die Einigkeit Europas entscheidend, denn noch will jeder Nationalstaat selbst entscheiden, wann er ausländische Investitionen abblockt. So ließen sich aber die europäischen Staaten gegeneinander ausspielen. Doch nicht nur als Wirtschaftsmacht müsse die EU sich besser aufstellen, um wirklich souverän zu bleiben, sondern auch militärisch. Denn ein Staat ist souverän, wenn er nicht erpressbar ist, und sei es durch eine potenzielle militärische Bedrohung. Diese Bedrohung repräsentiert in den Diskussionen des ECFR vor allem Russland.
Das hat eine gewisse Logik. »Die Migration und den Terrorismus können unsere eigenen Streitkräfte in den Griff kriegen«, sagt etwa Tomas Vallasek, ehemals slowakischer NATOBotschafter und heute Direktor des Thinktanks Carnegie Europe. »Aber bei einem konventionellen oder gar nuklearen Krieg mit Russland«, warnt Vallasek, »bleiben wir von den USA stark abhängig.«
Kein führender Staatsmann Europas stellt deshalb die NATO in Frage, denn sie verkörpert immer noch den amerikanischen Schutzschirm für Europa. Aber gerade um diesen Schutzschirm zu bewahren, obwohl »wir uns nicht mehr im gleichen Maß wie früher auf Washington verlassen können«, argumentierte Außenminister Maas im »Handelsblatt«, müsse Europa aufrüsten. Deutschland habe schon mit steigenden Rüstungsausgaben den ersten Schritt getan. Jetzt müsse man in einer »Verteidigungsunion« die Kräfte bündeln.
Freilich gestehen auch die Experten zu, dass die EU-Staaten zusammen bereits 3,9 Mal so viel für ihr Militär ausgeben wie Russland. Aber das sei kein Grund zur Beruhigung, warnt Nick Whitney. Er war 2004 der erste Direktor der European Defense Agency (EDA), die für eine europäische Koordinierung der Rüstungspolitik arbeitet. »Die Zahl 3,9 ist zwar eine nette Schlagzeile, aber sie sagt wenig über die tatsächliche Militärmacht beider Seiten aus«, sagt er. Bisher unterhalten die EU-Staaten immer noch 28 einzelne Armeen mit 28 bürokratischen Apparaten, die teilweise völlig verschiedene sicherheitspolitische Ziele verfolgen. Der Faktor 3,9 gebe aber »einen Eindruck davon, was für Möglichkeiten Europa offenstehen würden, wenn es den kollektiven politischen Willen hätte, diese Ressourcen gemeinsam zu investieren, um echte strategische Autonomie für Europa zu erlangen«. Was man deshalb brauche, sei konkrete transnationale Kooperation im Aufbau von gemeinsamen Streitkräften. Immerhin, fügt Whitney hinzu, üben die europäischen Armeen mittlerweile wieder die schnelle Verlegung von Truppen etwa an ihre Ostflanke, was seit dem Kalten Krieg ziemlich verlernt wor- den sei. Und auch über ein gesamteuropäisches nukleares Abschreckungspotenzial müsse ernsthaft nachgedacht werden, wolle die EU nicht abhängig von den USA bleiben.
Der Asien-Spezialist François Godement betont angesichts dieser Herausforderungen, dass das ernsteste Problem der EU in ihrer Uneinigkeit liege: »Das ist der Geburtsfehler der EU: Es bleibt eine Allianz von Nationalstaaten. Vertrauen ist nicht automatisch da. Stattdessen gibt es starke Interessenkonflikte.« So sei die EU im Gegensatz zu anderen Staaten nicht immer in der Lage, eindeutig ihre Interessen zu definieren.
Anfang Juni hatte Angela Merkel deshalb die Schaffung eines europäischen Sicherheitsrates vorgeschlagen, in dem nicht alle EU-Staaten vertreten sein sollen, der aber trotzdem die europäische Außenpolitik festlegen könnte. »Wenn Europa ein globaler Akteur sein will, dann muss es sich auch wie ein globaler Akteur verhalten«, sagte Merkel vor Abgeordneten des konservativen EUParteienbündnisses EVP. Auch für die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Interventionsarmee hatte sie sich damals ausgesprochen.
Die EU solle über mehr wichtige Fragen ohne Einstimmigkeit im europäischen Rat entscheiden können, fordert auch François Godement. »Das Prinzip der Einstimmigkeit steht oft einer gemeinsamen Position im Weg, etwa wenn es um eine Konfrontation mit China geht. Unter 28 Ländern wird China immer einen finden«, so Godement. Der zunehmende äußere Druck werde die EU immer mehr dazu zwingen, entweder geeinigter zu agieren oder zu zerbrechen.