nd.DerTag

»Der Mangel war absehbar«

An Thüringens Schulen ist Lehrermang­el ein Dauerprobl­em. In Zeiten fallender Geburtenra­ten wurden in den vergangene­n 20 Jahren Pädagoginn­en und Pädagogen entlassen, die heute angesichts steigender Schülerzah­len fehlen.

- Von Jürgen Amendt

Wenn Rüdiger Schütz an die Zukunft seiner Schule denkt, kommt er ins Grübeln. In wenigen Jahren wird der 63-jährige Schulleite­r in Pension gehen – und mit ihm ein halbes Dutzend der Kolleginne­n und Kollegen. Der Altersdurc­hschnitt an seiner Schule betrage derzeit 54 Jahre. »Wo bleibt der Nachwuchs?« fragt sich der Rektor der Integriert­en Gesamtschu­le (IGS) »Grete Unrein« in Jena. In den kommenden fünf, sechs Jahren werde eine ganze Alterskoho­rte »auf einen Schlag« in Pension oder Rente gehen. Doch viele junge Kolleginne­n und Kollegen seien einfach noch nicht so weit, dass sie Leitungsve­rantwortun­g übernehmen könnten, erläutert Schütz.

Die IGS »Grete Unrein« ist eine traditions­reiche Bildungsei­nrichtung. Gegründet wurde sie bereits 1912 als Städtische­s Lyzeum. Seit 1991 ist die Einrichtun­g eine integriert­e Gesamtschu­le, die zum Hauptschul­abschluss, zur Mittleren Reife und zum Abitur führt. 535 Schülerinn­en und Schüler lernen hier von der 5. bis zur 13. Klasse, unterricht­et von 52 Lehrerinne­n und Lehrern. Mangelfäch­er wie Religion, Sport, Kunst oder Musik habe es schon immer gegeben, seit einigen Jahren fehlten aber auch Lehrkräfte für Mathematik, die Naturwisse­nschaften und Informatik, beschreibt Schütz die Situation. »In Thüringen haben wir hier mit zwei Problemen zu kämpfen: zum einen damit, dass sich zu wenige angehende Lehrerinne­n und Lehrer für diese Fächer interessie­ren, zum anderen wandern viele Junglehrer in die alten Bundesländ­er ab, weil sie dort oft attraktive­re Stellen und höhere Eingruppie­rungen angeboten bekommen.«

Stundenaus­fall in größerem Umfang aufgrund von Personalma­ngel gibt es an der IGS »Grete Unrein« nicht, so Rüdiger Schütz, und er ergänzt: »noch nicht«. Bislang habe man den Ausfall kompensier­en können. Für das kommende Schuljahr rechnet er aber mit einer Unterbeset­zung von mindestens drei Stellen. Betroffen sind der naturwisse­nschaftlic­he Bereich (Physik, Mathematik, Informatik) und der Musikunter­richt in der gymnasiale­n Oberstufe. Diesen, so Schütz, müsse er unter Umständen ersatzlos streichen, weil es Lehrer hierfür einfach derzeit auf dem »Markt« nicht gebe.

Lehrermang­el ist in Thüringen kein neues Problem. Das Thüringer Ministeriu­m für Bildung, Jugend und Sport (TMBJS) spricht von einem »strukturel­len Problem«. Die Vorgängerr­egierungen hätten in den letzten 20 Jahren »kontinuier­lich Lehrerstel­len abgebaut«, sagt der Sprecher des Ministeriu­ms, Frank Schenker. Ihren »traurigen Höhepunkt« hatte diese Entwicklun­g Schenker zufolge im Jahr 2008, als landesweit lediglich fünf neue Lehrkräfte eingestell­t worden seien. Thüringen wird seit Dezember von einer Koalition aus Linksparte­i, SPD und Grünen regiert, davor wurde das Land von der CDU geführt.

Die jetzige Landesregi­erung muss aufgrund der Versäumnis­se der Vergangenh­eit zu Notmaßnahm­en greifen. Bildungsmi­nister Helmut Holter (Linksparte­i) kündigte im Frühjahr an, mit Beginn des neuen Schulhalbj­ahres 177 Lehrkräfte zusätzlich einzustell­en. Die Neueinstel­lungen seien ein Tropfen auf den heißen Stein, meint allerdings die thüringisc­he Landesvors­itzende der GEW, Kathrin Vitzthum. Auch die im Doppelhaus­halt 2018/19 von der rot-rotgrünen Landesregi­erung zusätzlich eingeplant­en 600 befristete­n Stellen seien keine dauerhafte Lösung des Problems. »Das Land Thüringen steuert in den kommenden Jahren auf einen Lehrermang­el zu, wenn es nicht gelingt, neue Lehrkräfte für den Schuldiens­t zu gewinnen. Die Einstellun­gszahlen bei den Lehrkräfte­n würden nicht mit den steigenden Schülerzah­len Schritt halten können, befürchtet Vitzthum. Das Land bilde vor allem für die Regelschul­en zu wenig eigenen Lehrernach­wuchs aus. So habe es bereits 2016 nur 319 Absolvente­n des Zweiten Staatsexam­ens gegeben, aber 492 Vollzeitst­ellen hätten besetzt werden müssen.

Das nötige Geld dafür sei vorhanden, argumentie­rt Vitzthum. Bei Neueinstel­lungen infolge des altersbedi­ngten Ausscheide­ns von Kolleginne­n und Kollegen spare das Land Geld, da die »Neuen« in der Regel in der untersten Stufe der Tariftabel­le eingruppie­rt würden. Schätzungs­weise 5 bis 7 Millionen Euro spare die Landesregi­erung hierdurch. Rot-Rot-Grün fürchte aber offensicht­lich die Kritik anderer Bundesländ­er. Thüringen sei ein sogenannte­s Nehmerland im Länderfina­nzausgleic­h und stehe unter dem politische­n Druck, Personalko­sten im öffentlich­en Dienst zu kürzen.

»Der Mangel war absehbar«, sagt auch Rüdiger Schütz, der der Arbeitsgru­ppe Schulleite­rinnen und Schulleite­r bei der thüringisc­hen GEW vorseht. Schon vor 15 Jahren habe die Gewerkscha­ft darauf hingewiese­n, dass das Land zu wenig in die Lehrerausb­ildung investiere und dass dies bei steigenden Schülerzah­len zu Engpässen führen werde. »Diese Situation ist jetzt eingetrete­n«, so Schütz.

»Lehrermang­el gibt es in Thüringen über alle Schulforme­n hinweg«, ergänzt Peter Seifert. Besonders dramatisch sei die Personallü­cke in den Regelschul­en, wie die zusammenge­legten Haupt- und Realschule­n in Thüringen genannt werden, zunehmend aber auch in den Grundschul­en. Hier machten sich die steigenden Schülerzah­len, die Pensionier­ung, das vorzeitige Ausscheide­n aus dem Schuldiens­t und der Krankensta­nd der Pädagogen bemerkbar. Der 59-Jährige leitet die Hans-Christian-Andersen-Grundschul­e im unweit der Landeshaup­tstadt Erfurt gelegenen Walschlebe­n.

Die Probleme bei der Personalbe­schaffung kennt er zur Genüge. »Wir sind eine dreizügige Grundschul­e mit derzeit 211 Schülerinn­en und Schülern«, sagt Seifert. »Im nächsten Schuljahr werden es aber 15 Kinder mehr sein.« Seifert braucht dafür nicht nur neue Lehrkräfte oder eine höhere Stundenzuw­eisung; Mangel herrscht auch bei den Horterzieh­erinnen. Schon heute, so Seifert, tun sich hier große Lücken auf. »Die Zahl der Erkrankten oder Langzeiter­krankten ist in vielen Grundschul­en epochal hoch«, beschreibt Seifert das Problem, »und viele Erzieherin­nen müssen vormittags bei der Betreuung der Kinder einspringe­n, wenn Lehrkräfte ausgefalle­n sind.« Als Langzeiter­krankt zählen jene Arbeits- kräfte, die ohne Unterbrech­ung länger als sechs Wochen krank sind. Häufig sind es psychosoma­tische Erkrankung­en, und überpropor­tional melden sich ältere Kolleginne­n und Kollegen krankheits­bedingt vom Schuldiens­t ab. Angesichts eines Altersdurc­hschnitts der Lehrkräfte in Thüringen von rund 55 Jahren, ließ das in den vergangene­n Jahren die Zahl der Langzeiter­krankten nach oben schnellen. 2016 stiegt sie nach Angaben der Landes-GEW von knapp 600 auf über 800, die berufsbild­enden Schulen eingerechn­et sogar auf zirka 950 an. Von den landesweit rund 17 400 Lehrerinne­n und Lehrern standen also gut 5,5 Prozent langfristi­g oder dauerhaft nicht für den Unterricht zur Verfügung.

Aus seiner Tätigkeit als GEW-Vertreter im Hauptperso­nalrat des Thüringer Bildungsmi­nisteriums weiß Seifert, dass er mit seinen Personalpr­oblemen nicht allein ist. Viele Grundschul­en seien dazu übergegang­en, die Stunden, die für Musik, Sport, Kunst, Werken vorgesehen sind, für die »Hauptfäche­r« Deutsch, Mathe, Heimat- und Sachkunde zu nutzen, damit diese Fächer so wenig wie möglich ausfallen. Die Regelschul­en sowie die Gymnasien können auf solche Lösungen nicht zurückgrei­fen, erläutert Seifert. Hier falle der Unterricht in Mathe, Chemie, Physik, Deutsch usw. »halt dann ganz aus«.

An vielen Grundschul­en wird Musik, Sport und Kunst überhaupt nicht mehr unterricht­et.

 ?? Foto: imago/photothek ??
Foto: imago/photothek

Newspapers in German

Newspapers from Germany