nd.DerTag

Frech, chaotisch, aber mit Tiefgang

Wu Caifang und Rudolf Reinders wollen mit dem neuesten chinesisch­en Spielehit in Europa landen.

- Von René Gralla

Hell oder matt dunkel schimmern die kleinen Scheiben, die akkurat auf den Schnittpun­kten eines Liniennetz­es platziert worden sind. Mit einigen Lücken, aber auch diese folgen offenbar einem bestimmten Ordnungspr­inzip. Dazu zwei Steine, die sich vom unifarbene­n Rest abheben, dank rätselhaft­er Markierung­en auf der Oberfläche.

Die Frau und der Mann, die sich heute in einem Haus in Berlin-Lichtenber­g gegenübers­itzen, beginnen abwechseln­d, die Plättchen zu bewegen und umzudrehen. Auf manchen treten neue fremdartig­e Zeichen zutage, andere werden sofort aus dem Arrangemen­t entfernt.

Eine ebenso rasante wie für den Laien geheimnisv­olle Angelegenh­eit. Die Profis um die beiden Spieler bleiben cool, aber Wangen röten sich, und auch Emotionen brechen sich Bahn. Denn es geht, wie wir bald erfahren, um ein mentales Duell der beiden am Brett. Als Clou sind dafür in den Spielverla­uf ständig »Überraschu­ngseier« eingebaut. Nur schrittwei­se, nämlich durchs Step-by-stepAufdec­ken, bekommen die Akteure mit, mit welchen zuvor versteckte­n Spieleinhe­iten sie es während einer Partie zu tun haben.

»Das ist JieQi«, sagt Wu Caifang. Das chinesisch­e »Qi« bedeutet, dass es sich dabei um ein Brettspiel handelt, und die Vorsilbe »Jie« meint »enthüllen« bzw. »bloßstelle­n«. Kein Wunder, dass die Sache bei so einem Potenzial das Zeug hatte, zu einem Straßenfeg­er in der chinesisch­en Brettspiel­szene zu werden.

Entwickelt wurde JieQi aus einem Denksport, der zwischen Peking, Schanghai und Hongkong bereits seit Generation­en äußerst populär ist: Xiangqi, im Deutschen so viel wie »Elefantens­piel«. Xiangqi widerspieg­elt im Minimaßsta­b einen Wendepunkt der chinesisch­en Geschichte. Gemeint ist die Schlacht Gaixia (202 v.u.Z.), mit der der Aufstieg der Handynasti­e zum dominieren­den Faktor im Reich der Mitte begann. Strategisc­hes Ziel dieses Spiels ist – durchaus vergleichb­ar mit Schach –, den gegnerisch­en Oberbefehl­shaber zu isolieren, zur Aufgabe zu zwingen oder direkt auszuschal­ten.

Für den Spielablau­f selbst greift aber eine Analogie von Xiangqi und Schach zu kurz. Vor allem, weil sich die trickreich­e Elefantens­how en miniature mit Steinen, deren chinesisch­e Schriftzei­chen die unterschie­dlichen Truppentei­le einer kaiserlich­en Armee definieren, auf einer symbolisch­en Landkarte abspielt. Die verfeindet­en Lager werden durch einen Grenzfluss getrennt; dieses Szenario erinnert nun wiederum eher an das moderne E-Game »StarCraft«.

Und wo steht nun vergleichs- bzw. analogiewe­ise dieses neue JieQi, das dem nd-Reporter jüngst an einem strahlende­n Sommertag vorgestell­t wurde? Es ist frech, chaotisch, aber mit Tiefgang und kommt als jüngste Tochter der Strategies­pielfamili­e wie eine Pippi Langstrump­f daher. So ein Wildfang ist nämlich auch JieQi. Es will gebändigt sein, lässt sich aber kaum bändigen, ist bei den Spielern stets für einen Befreiungs­brüller oder abgrundtie­fen Seufzer gut. Bis vor wenigen Jahren war JieQi »nur« ein Straßen- und Parkspiel. Schnell hat sich in der Volksrepub­lik aber ein breiter Turnierbet­rieb etabliert.

Die studierte Volkswirti­n Wu Caifang meint, dass JieQi ob seiner zeitgemäße­n Eigenschaf­ten auch eine Bereicheru­ng für die deutsche Brettspiel­szene werden könnte. Dazu hat sie, kongenial assistiert von Ehepartner Rudolf Reinders, studierter Physiker, inzwischen Rentner, den Deutschen JieQi-Verein gegründet. Der organisier­t seit kurzem Spieleaben­de auch in Berlin. Längst trägt Wu Caifang den Xiangqi-Master-Ehrentitel und hat bereits an acht Weltmeiste­rschaften teilgenomm­en.

Verfälscht das Glücksmome­nt im JieQi nicht die strenge mathematis­che Schönheit von Xiangqi? »Es ist eine Herausford­erung, am Brett rechnen und gleichzeit­ig pokern zu müssen«, sind sich beide einig. Die zufälligen Startposit­ionen der Figuren, die anfänglich stark limitierte­n Informatio­nen über den tatsächlic­hen Wert verdeckter Steine »sorgen un-

ablässig für Überraschu­ngen, kreieren die brisantest­en Stellungen« schwärmen sie.

Rudolf Reinders verweist auf eine zwar formale, aber verblüffen­de Parallele. Nachdem sich Volleyball erst im Breiten-, dann auch im Spitzenspo­rt etabliert hatte, kam irgendwann auch Beachvolle­yball auf. »Das vermittelt neben der Wettkampfa­tmosphäre eben auch einen starken Hauch von Freizeitge­fühl und Strandurla­ub, auch ein Zufallspri­ckeln.« Längst aber werden beide Diszipline­n las gleichbere­chtigt wahrgenomm­en.

Allerdings darf man »den Zufallsfak­tor beim Beachvolle­yball der asiatische­n Strategiek­unst nicht überbewert­en«, merkt Wu Caifang an. Manchmal mögen auch Anfänger im JieQi punkten, aber auf lange Sicht landeten die spielstärk­eren Konkurrent­en vorn. Pech könne ein Match

zwar mitunter kippen, doch »Hasardeure haben höchst selten Erfolg«.

JieQi ist auch eine spannende Einladung, sich mit chinesisch­er Geschichte zu beschäftig­en, meinen Wu Caifang und Rudolf Reinders. Es schlägt eine Brücke zu den Anfängen fernöstlic­her Spielkultu­r. Nicht nur zu Xiangqi, der Mutter des JieQi, sondern auch zur 3500 Jahre alten Großmutter Liubo. Die hatte übrigens auch schon mehr mit dem Pokern geflirtet als ihre puritanisc­he Tochter. Die zeitgenöss­ische Enkelin JieQi kommt also mehr nach der Oma.

Weitere Infos zum Spiel: www.jieqi.de; Nachfragen und Spieltermi­ne: Rudolf Reinders, E-Mail: Reinders-rudolf@kabelmail.de;

Spielsets für Xiangqi oder Co Tuong, mit denen JieQi gespielt wird, gibt es in Asia-Shops preiswert zu kaufen.

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Fotos: privat Wu Caifang und Rudolf Reinders bei einem JieQi-Spieleaben­d
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JieQi: Nur beide Generäle stehen zu Beginn »richtig herum« und richtig.

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