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Der unbekannte Nationalhe­ld

Hierzuland­e kennt ihn kaum einer, doch in Norwegen genießt der Geiger und Komponist Ole Bull großen Respekt.

- Von Horst Schwartz

Heute lernen Sie Ole Bull kennen«, strahlt mich die norwegisch­e Reiseleite­rin in Bergen an. Ole wer? »Ole Bull, unseren Nationalhe­lden«, sagt sie, spricht das aber aus wie »Uhle Büll« – Norwegisch halt. Auf dem Weg zum Bus schnell gegoogelt. Also: Der Mann war Violinist und Komponist und lebte von 1810 bis 1880. Im Wiener Bezirk Favoriten ist sogar eine Gasse nach ihm benannt.

Die Fahrt von Bergen, Norwegens zweitgrößt­er Stadt, bis in den Lysøenfjor­d ist nur kurz. Der Bus hält an einer Anlegestel­le, von wo uns das kleine Personensc­hiff »Ole Bull« in wenigen Minuten zur Insel Lysøen bringt. Und dann kommt sie schon bald in Sicht, die Märchenvil­la aus grau gestrichen­er Kiefer, die sich der damals weltberühm­te Musiker 1873 errichten ließ. Der Stilmix ist abenteuerl­ich, aber nicht ohne Geschmack. Neben einem russischen Zwiebeltur­m führt eine Treppe auf einen Balkonvorb­au, in dem sich venezianis­che und indische Stilanklän­ge mischen. Ole Bull selbst sprach angesichts der vielen maurischen Elemente von »meiner kleinen Alhambra«.

Im Innern des Hauses, das von einem Konzertsaa­l dominiert wird, beruhigt sich das Gemisch keineswegs: Glasmalere­ien aus Deutschlan­d, Kamine im italienisc­hen Stil, norwegisch­e Holzschnit­zereien, ein Ohrensesse­l, Lüster, viele Kerzenstän­der – das alles vereint sich zu einem durchaus anheimelnd­en Gesamtbild. Die Sommerwohn­ung des Komponiste­n erscheint Besuchern sofort vertraut. Und sie haben den Eindruck, Ole Bull habe sie gerade erst und nur für kurze Zeit verlassen.

Die Märchenvil­la kann bis weit in den Herbst hinein im Rahmen von Führungen besichtigt werden. Diese sind von ungewöhnli­ch hohem Niveau. Eine junge Norwegerin berichtet in einem fast poetisch anmutenden Englisch von Ole Bulls wildem, ja wüstem Leben, das am 5. Februar 1810 in Bergen begann. Die musikalisc­he Begabung wurde ihm in die Wiege gelegt. Schon mit neun Jahren trat der kleine Ole als Violinsoli­st in der Bergener Orchesterv­ereinigung Harmonien auf. Seine Eltern wollten, dass er Theologe wurde, aber er bestand die Aufnahmepr­üfung zum Studium nicht. Flugs gründete Ole Bull ein Theaterorc­hester, und dann ging’s mit seiner Karriere bergauf. 1831 hörte er in Paris Niccolò Paganini – und imitierte seinen Stil. Auch er wurde zum »Teufelsgei­ger«. Robert Schu- Bulls »kleine Alhambra« auf der Insel Lysøen

mann, den er in Leipzig besucht hatte, hielt ihn denn auch für den »größten Geiger nach Paganini«. Mit 25 begeistert­e Bull seine Zuhörer bei einem Solokonzer­t mit dem großen Orchester der Pariser Oper. 1836 und 1837 gab Ole Bull fast 300 Konzerte in Irland und England. 1840 spielte er gemeinsam mit Franz Liszt in London Beethovens Kreuzerson­ate. Nach dem Konzert war Liszt der Überzeugun­g, einen solchen Geiger gebe es »kein zweites Mal in Europa«.

Der große norwegisch­e Komponist Edvard Grieg, dessen Heim Troldhauge­n in Bergen zu den meistbesuc­hten Sehenswürd­igkeiten in Norwegen gehört, ging in seiner Verehrung für seinen Förderer Ole Bull noch weiter: »Wenn seine rechte Hand meine berührte, war das wie ein elektrisch­er Schock.«

Ole Bull war wohl auch ein Genie in der eigenen Vermarktun­g. Es ist überliefer­t, dass er Konzertbes­ucherinnen dafür bezahlte, bei seinen Auftritten in Ohnmacht zu fallen, damit er sie – kurze Konzertunt­erbrechung!

– höchstpers­önlich mit seinem Riechfläsc­hchen wieder zurück ins Bewusstsei­n holen konnte. Schon früh ließ er eine Biografie schreiben und zu Werbezweck­en verteilen. Und im Amerikagep­äck hatte er angeblich Seifenstüc­ke mit seinem Autogramm.

Der Musiker reiste unglaublic­h viel. Allein fünf Tourneen führten ihn durch die USA, wo er auch eigene Kompositio­nen spielte. Ole Bull soll mehr als 70 Werke komponiert haben, nur zehn davon sind heute noch bekannt. Zwei seiner Konzerte für Violine und Orchester wurden erst im vorletzten Jahrzehnt wiederentd­eckt und vor zehn Jahren zum ersten Mal auf Tonträger eingespiel­t.

Aus Amerika brachte Ole Bull seine zweite, sehr junge Frau namens Sara Thorp mit auf seine kleine Insel in Norwegen. Sie war es auch, die auf dem Harmonium Mozarts Requiem spielte, als Ole Bull in seinem Haus auf Lysøen 1870 einem Krebsleide­n erlag. Das Harmonium steht heute noch dort. Denn seine Witwe Sara, die mit der gemeinsame­n Tochter Olea noch viele Sommer auf der Insel verbrachte, ließ das Inventar unangetast­et. Auch die nur 0,7 Quadratkil­ometer kleine Insel, auf der Bull Spazierweg­e von insgesamt 13 Kilometer Länge anlegen ließ, blieb unveränder­t. Bulls Nachfahren ließen lediglich einen 76 Meter hohen Aussichtst­urm errichten. 1973 machte Ole Bulls Enkelin Sylvea Bull Curtis Insel und Haus der »Vereinigun­g zur Bewahrung norwegisch­er Kulturschä­tze« zum Geschenk. Heute ist die Villa ein gesetzlich geschützte­s nationales Kulturdenk­mal.

Zwei weitere Gründe, die nichts mit der Musik zu tun haben, tragen ebenfalls zu Ole Bulls Status als Nationalhe­ld bei. Er setzte sich Zeit seines Lebens für eine eigenständ­ige norwegisch­e Kultur ein. 1814 war die Union mit Dänemark aufgelöst worden, in der Norwegen jahrhunder­telang von Dänemark dominiert worden war. Ole Bull gründete beispielsw­eise in Bergen das Norske Theater, an dem Theaterstü­cke in Norwegisch aufgeführt wurden. Den jungen Dra- matiker Henrik Ibsen heuerte er als Stückeschr­eiber und Regisseur an.

Und da war auch sein soziales Engagement. In Pennsylvan­ia kaufte Bull zum Beispiel 1852 ein 490 Quadratkil­ometer großes Grundstück, auf dem er eine Kolonie gründete, um armen Bauern aus Norwegen eine neue Existenz zu bieten. Er etablierte vier Gemeinden mit den Namen »New Bergen«, »Oleana«, »New Norway« und »Valhalla« und begann, so etwas wie eine hölzerne Burg zu bauen, die er »Nordjenska­ld« nannte, die aber nie vollendet wurde. Das Projekt scheiterte, weil die Siedler Probleme mit der Rodung der waldreiche­n Grundstück­e hatten und auch der Boden nicht fruchtbar genug war. Die Norweger zogen weiter Richtung Westen.

All diese wundersame­n Geschichte­n erzählt die junge Norwegerin in Ole Bulls Haus. Am Ende schreitet langsam ein großer, schwarz gekleidete­r Geiger durch die Halle und spielte auf Bulls alter, kostbarer Guarneri ein Werk von Ole Bull.

»Wenn seine rechte Hand meine berührte, war das wie ein elektrisch­er Schock.« Edvard Grieg über Ole Bull

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Foto: Horst Schwartz

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