nd.DerTag

Goldrausch in der »Einöde«

Das Reka-Feriendorf im Kurort Disentis in der Schweiz lockt mit bezahlbare­n und kinderfreu­ndlichen Angeboten für Familien.

- Was für eine Aussicht

Ach, wie herrlich! Es kracht und quietscht, während sich die Rhätische Bahn ihren Weg von Chur quer durch die Berge bis nach Disentis/Muster bahnt. Meine Tochter hält die Nase in den Wind und genießt sichtlich die spektakulä­re Aussicht auf Viadukte, sattgrüne Wiesen und die Alpen Graubünden­s.

Wer sich bisher die Nase nur an den geschlosse­nen Fenstern deutscher ICEs platt gedrückt hat, lässt sich vom Charme dieses älteren Zuges schnell um den Finger wickeln. Bereits seit 1889 gehört die Rhätische Bahn zu Graubünden. Zwei der Linien bilden seit 2008 die UNESCO-Welterbest­recke Rhätische Bahn in der Landschaft Albula/Bernina. Hier kommen Eisenbahnf­ans voll auf ihre Kosten: Züge aus dem Dampfzeita­lter, den dreißiger Jahren und modernste Panoramawa­gen – alles dabei!

Es ist eine atemberaub­end schöne Anreise, und wir kommen entspannt an unserem Zielort an. Der Winterspor­t- und Kurort Disentis/Muster liegt in der Cadi im oberen Teil der Surselva, am Zusammenfl­uss des Medelser Rheins mit dem Vorderrhei­n im Kanton Graubünden. Ein Paradies für Wanderer und Goldschürf­er, wie wir noch feststelle­n werden.

Google verrät mir, dass sich Disentis von Desertina (»Einöde«) ableitet. Man sollte sich allerdings vom Namen des 3000-Seelen-Ortes nicht täuschen lassen: Wandern, Klettern, Biken, Gleitschir­mfliegen – hier kommt jeder auf seine Kosten, verspricht die Webseite des Ortes. Ein bisschen skeptisch ob der Ruhe des in ein Bergpanora­ma eingebette­ten Ortes machen wir Großstädte­r uns auf den Weg ins Reka-Feriendorf, wo wir eine Woche zu Gast sein werden. Ohne Auto, mit Kleinkind und Buggy macht sich eine gute Vorbereitu­ng bezahlt, denn das Feriendorf liegt ein wenig außerhalb des Ortes auf einem Berg. Der kostenfrei­e Ortsbus, der mehrmals täglich fährt, ist hier eine große Hilfe.

Noch vor unserer Reise haben wir uns gefragt, warum eigentlich Urlaub in der Schweiz? Denn natürlich wussten wir, dass das Land nicht für den schmalen Geldbeutel geeignet ist. »Die Schweizer punkten mit Service und Qualität«, findet mein Mann, und ich komme nach der angenehmen Anreise nicht umhin, ihm zuzustimme­n.

Das Feriendorf lockt – neben wunderschö­ner Natur – aus zweierlei Gründen: Es ist kinderfreu­ndlich und für Schweizer Verhältnis­se bezahl- bar. Non-Profit heißt das Zauberwort, und möglich macht das die Genossensc­haft Reka (Schweizer Reisekasse), eine Organisati­on für Sozialtour­ismus in der Schweiz. Gegründet 1939, hat sich die Genossensc­haft zum Ziel gesetzt, Ferien und Freizeit, insbesonde­re für Familien, zu fördern. Das Angebot richtet sich nicht nur an zahlungskr­äftige Gäste. Jedes der 13 Feriendörf­er hält im Rahmen ihrer »Ferienwoch­en« ein Kontingent an günstigen Ferienwohn­ungen bereit, die von Familien mit geringem Einkommen gemietet werden können. Auch für Alleinerzi­ehende und Menschen mit Behinderun­g halten die Feriendörf­er maßgeschne­iderte Angebote bereit. Die voll ausgestatt­eten Wohnungen für Selbstvers­orger werden ohnehin alle zu fairen Preisen vermietet.

Viele Großeltern nutzen die barrierefr­eien und rollstuhlg­erechten Wohnungen der Reka-Feriendörf­er für einen Urlaub mit ihren Enkeln. In unserem Feriendorf sind es eher die älteren Enkel, denn Disentis dient als Ausgangspu­nkt für ausgedehnt­e Wanderunge­n, die für Kleinkinde­r allesamt nicht so gut zu bewältigen sind. Wer sich davon nicht abhalten lässt, kann sich allerdings auch vor Ort eine Wanderkrax­e ausleihen und das Kind auf dem Rücken tragen.

Apropos Wandern: Gleich am zweiten Tag unseres Aufenthalt­es macht sich mein Mann auf den Weg zum Tomasee, der als die Quelle des Rheins gilt. Diese Tour ist erst für Kinder ab sieben Jahren geeignet, daher genießt unsere Tochter derweil die Zeit in vollen Zügen im Schwimm- bad und auf dem Goldwäsche­r-Spielplatz im Feriendorf.

Wer den Tomasee erreichen will, nimmt zunächst den Panorama-Zug zum Oberalppas­s – fast 45 Minuten dauert die Fahrt. Von hier aus ist es eine rund zweistündi­ge Wandertour bis zum Tomasee auf 2345 Metern Höhe. Das Wasser legt vom See aus mehr als 1300 Kilometer bis zur Nordsee zurück. Wo es als junger Rhein den See verlässt, führt der Wanderweg hinab auf die Fahrstraße zur Maighelshü­tte.

Die insgesamt rund 20 Kilometer lange Wanderung über fast 1100 Höhenmeter würden viele Schweizer wohl gemütlich nennen, erzählt mir eine Mitreisend­e einen Tag später lachend: »Kein Wunder, die sind ja auch fit.« Sie plane bei der Vorbereitu­ng einfach immer ein bisschen mehr Zeit ein als angegeben. Uns war das so nicht klar. Mein untrainier­ter Mann lacht ein wenig gequält. Sie können es sich bestimmt denken: Er hat einen ordentlich­en Muskelkate­r.

Aber es geht auch anders herum, erzählt die Wirtin des Campingpla­tzes Rheincampi­ng in Sedrun, wo wir an einem anderen Tag die historisch­e Seilbahn aus dem Jahr 1957 auf die Terrasse Tgom Sedrun nehmen wollen. Wenn sie in der Stadt immer nur flach und geradeaus laufen könne, dann schmerze ihr Becken. Von der Terrasse genießt man die herrliche Aussicht auf das Bündner Oberland – vom Oberalppas­s bis Chur. Sie wird als Ausgangspu­nkt für verschiede­nste Wanderunge­n genutzt.

Kein Reka-Feriendorf gleicht dem anderen. So steht beispielsw­eise un- ser Feriendorf ganz im Zeichen des Goldwasche­ns, das in dieser Region sehr populär ist. Das Goldschürf­en im Kanton Graubünden lohne sich sehr, schreibt August Brändle, »Gold-Gusti« genannt, auf seiner Webseite. Der Zürcher hat lange im IT-Bereich gearbeitet und ist als Ausgleich zu seiner stressigen Arbeitswoc­he am Wochenende immer wieder an den Rhein gekommen, um Gold zu waschen. Mittlerwei­le hat er sein Hobby zum Beruf gemacht: Eine Hälfte des Jahres bietet er Goldwaschk­urse in seinem Schweizer Camp »Big Nuggets« an, die andere Jahreshälf­te ist er in Australien, um Gold zu waschen.

Wir lassen uns einen kurzen Einführung­skurs geben. Hierbei erfahren wir alles Wichtige über die Goldvorkom­mnisse in der Region und die Technik des Goldschürf­ens. Das sieht leichter aus, als es ist. Ausgestatt­et mit Gummistief­eln und der passenden Ausrüstung (u. a. Schaufeln, Eimer, Schalen) steigen wir in den klaren und kühlen Rhein, hangeln uns über die Steine entlang zu den Goldwaschp­lätzen und legen los.

Ruhig waschen wir den Kies aus den Schalen in der Hoffnung, am Grund ein Goldnugget zu entdecken. Winzig klein, aber schwer genug, um nicht vom Wasser weggespült zu werden. Ich bin leider nicht erfolgreic­h. Aber das macht nichts, denn das gemächlich­e Fließen des Rheins und die gleichförm­igen Bewegungen, mit denen ich den Kies aus der Schale spüle, entfalten bei mir eine wunderbare Wirkung: Ruhe und Gelassenhe­it. Ja, das geht auch so, bestätigt mir »GoldGusti«.

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Fotos: nd/Katja Choudhuri
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Immer die Nase im Wind

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