Charisma, »Volk« und die souveräne Nation
La France insoumise gilt als Vorbild für »Aufstehen«. Wie ist die französische Sammlungsbewegung entstanden und wofür steht sie?
Zunächst entstand 2008 die Parti de Gauche als Reaktion auf die Gründung der deutschen Linkspartei. Später nahm sich Jean-Luc Melénchon andere zum Vorbild. Bereits als die Sammlungsbewegung »Aufstehen« noch als »Fairland« firmierte, betonten deren Akteure stets, dass die Bewegung La France insoumise (LFI) als Vorbild diene. Deren Aushängeschild ist Jean-Luc Mélenchon, der als Präsidentschaftskandidat im vergangenen Jahr 19,58 Prozent der Stimmen erreichte. Doch wofür steht das »Aufständige Frankreich« politisch?
Die Gründung von LFI geht auf das Frühjahr 2016 zurück. Damals richteten sich bereits alle Blicke auf die Präsidentschaftswahlen 2017. Angestoßen wurde LFI, das sich bewusst nicht als Partei versteht, von führenden Köpfen der Parti de Gauche. Diese wiederum war 2008 als Reaktion auf die Gründung der deutschen Linkspartei entstanden und von ExMitgliedern der Sozialistischen Partei Frankreichs angestoßen worden, die – wie Mélenchon – sich in ihrer Studienzeit in trotzkistischen oder linksnationalen Millieus bewegt hatten.
Ziel war es damals, nach dem Vorbild der deutschen Linkspartei, eine Vereinigung aller linken Strömungen im Rahmen einer Partei zu erreichen. Dies gelang aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) nicht. Zwar entstand als Kompromiss das Wahlbündnis Front de Gauche (Linksfront, Fdg), das sich aber als äußerst brüchig erwies, da sich die lokalen Akteure der PCF vor Ort auch weiterhin mit der Sozialistischen Partei verbündeten. Doch gerade zu dieser sollte die Front de gauche ein Gegengewicht sein. Spätestens seit den Kommunalwahlen 2014 war die Fdg Geschichte, wurde aber erst im Juli 2016 von Mélenchon offiziell für gescheitert erklärt. Auch die Parti de Gauche trat auf der Stelle. Denn das französische Mehrheitswahlrecht honoriert Wahlergebnisse zwischen fünf und zehn Prozent nicht und der Pdg gelang es kaum, in Kommunalparlamente einzuziehen. In der Nationalversammlung hatte von der Front de gauche nur die Kommunistischen Partei profitiert. Kein Mitglied der Pdg war bei der Parlamentswahl 2012 ins Parlament eingezogen.
Statt des deutschen Modells wurde vor diesem Hintergrund Podemos aus Spanien samt ihren Vordenker*innen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe zum Vorbild. Diese negierten, dass sich die Linksparteien in erster Linie als marxistische Arbeiterparteien zu verstehen hätten. Vielmehr zeichneten sich die postmodernen Gesellschaften durch ihre Multipolarität aus. Es gelte, diese durch eine entsprechende Ansprache, formuliert von charismatischen Führungspersönlichkeiten, zusammenzufüh- ren. In Spanien war dies die Kritik an der Austeritätspolitik und an Korruption sowie die Absage an die politischen Eliten. Dabei wurde das »Volk« beschworen, das einen Kampf für die nationale Souveränität gegen die »Eliten« führen müsse.
Besonders der Aspekt der souveränen Nation war für die postmarxistische französische Linke interessant. Schließlich reklamiert sie seit jeher für sich den Anspruch, die moderne Nation geschaffen zu haben. Die vertragsrechtliche Grundlage, auf der die staatsbürgerlichen Rechte beruhen, und die Negation ethnischer Zugehörigkeit verbunden mit dem Anspruch, in Bezug zum Denken Rousseaus, das »Allgemeinwohl« in den Mittelpunkt zu stellen, wurden für La France insoumise zur theoretischen Grundlage. Französische Werte wie Menschenrechte und Demokratie definieren für LFI die nationalen Identität. Werte, die drohen, verloren zu gehen, wäre man nur noch ein teilsouveräner Gliedstaat eines Europäischen Staates.
Es sollte deshalb auch nicht verwundern, dass LFI eine staatsbürgerliche Revolution anstrebte, um das französische Präsidialsystem zugunsten einer parlamentarischen Republik umzubauen. Deren verfassungsrechtlichen Leitlinien sollten durch eine verfassungsgebende Versammlung beschlossen werden. Ein relevanter Teil der Mitglieder dieses parlamen- tarischen Gremiums sollte per Losentscheid bestimmt werden, um eine größere soziale Repräsentativität der Bevölkerung herzustellen.
Die Forderung, eine sechste Republik (anstelle der fünften) zu schaffen, war der programmatische Ausgangspunkt von LFI. In der Folge konnten sich Unterstützer*innen ohne Ansehen ihrer Parteimitgliedschaft online registrieren und ab Mit- te 2016 Vorschläge für ein Wahlprogramm machen. Einzelne Eckpunkte wurden auf thematischen Konferenzen beraten und dort faktisch beschlossen, zu denen Vertreter der Zivilgesellschaft und per Losentscheid gezogene, auf der Homepage von LFI registrierte Basisaktivist*innen eingeladen wurden.
Im November 2016 stand ein erster Programmentwurf. Bis Ende April 2017 wurde er 250 000 Mal (der Preis lag bei drei Euro) verkauft. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl wurden in mehreren Themensendungen, die ins Internet gestreamt wurden, die Forderungen weiter präzisiert und anschließend in Form von 50 Themenheften ins Netz gestellt. Zum Höhepunkt des Wahlkampfes waren über 400 000 Menschen auf der Onlineplattform von LFI registriert.
Inhaltlich unterschieden sich die Forderungen nicht stark von denen anderer linker Parteien. In der Europafrage stand man allerdings für einen Konfrontationskurs. So kündigte man an, im Falle eines Wahlsieges von Mélenchon eine Neuverhandlung der EU-Verträge anzustreben. Im Falle des Scheiterns von Verhandlungen sollte die EU verlassen werden. Freilich aber nur, wenn eine Volksabstimmung grünes Licht gegeben hätte. In diesem Fall, so der Plan, hätten solidarische Partnerschaften mit anderen europäischen Staaten, vor allen Dingen des europäischen Südens, angestrebt werden sollen.
Zwar stand und steht LFI für eine Flüchtlingspolitik, die nicht in erster Linie für offene Grenzen eintritt, sondern Fluchtursachen beseitigen möchte. Allerdings betonte Mélenchon im Wahlkampf immer wieder die »humanistische Verantwortung«, Geflüchtete aufzunehmen und ihren Aufenthaltsstatus zu legalisieren. LFI und Mélenchon lehnen die massive Verschärfung des Asylgesetztes durch die französische Regierung scharf ab.
Betrachtet man sich die Wählerschaft von La France insoumise, fällt auf, dass sich diese von der der Linkspartei kaum unterscheidet. LFI und Jean-Luc Mélenchon punkteten vor allem in den urbanen Zentren und besonders bei jungen Menschen. Sie holten aber auch beachtliche Stimmergebnisse in den »sozialen Brennpunkten«. Mélenchon profitierte offensichtlich von den Auswirkungen der Nuitdebout-Bewegung im Frühjahr 2016. Seine Wählerschaft überschnitt sich soziologisch betrachtet stark mit jener der Teilnehmer*innen zumindestens der Pariser Nuit-debout-Proteste. Mélenchon kam auch zugute, dass er zwar über Jahrzehnte auf der politischen Bühne aktiv war, niemals aber eine zentrale Rolle eingenommen hatte, was seinen Worten Glaubwürdigkeit verlieh. Gleichzeitig gelang es LFI und Mélenchon, darauf zu reagieren, dass viele Menschen nicht mehr bereit sind, sich in den bestehenden politischen Formationen zu organisieren. Einerseits, weil diese allesamt in den letzten Jahrzehnten an Regierungskoalitionen beteiligt waren, die wachsende gesellschaftliche Polarisierung und Perspektivlosigkeit nicht verhindern konnten. Anderseits, weil die Bindungskraft der parteipolitischen Exponenten des rechten und linken Lagers immer weiter nachgelassen hat.
Dort, wo LFI stark war, erzielte der rechtsnationalistische und fremden- feindliche Front National eher unterdurschnittliche Wahlergebnisse – und umgekehrt. Dies zeigt, dass der Versuch, Wähler*innen der FN für Mélenchon zu begeistern, nicht erfolgreich war. Auch von der massiven Demobilisierung weiter Teile der Gesellschaft bei den anschließenden Parlamentswahlen war LFI betroffen. Die Wahlbeteiligung lag in der ersten Runde bei 48,7, in der Stichwahl bei 42,6 Prozent. Dennoch gelang es LFI, eine kleine Fraktion mit 17 Mitgliedern zu erlangen, die zu den aktivsten im Parlament gehört.
Um den aktivistischen Charakter der Gründungsphase beizubehalten, setzt LFI derzeit auf praktisches Handeln vor Ort. So stoßen Aktivist*innen Bürgerinitiativen an, die gezielt jene Probleme lautstark gegenüber den politisch Verantwortlichen auf die öffentliche Ebene bringen sollen, welche einer schnellen Lösung bedürfen. Hierbei lässt man sich von Beispielen aus den USA leiten. LFI verfügt aktuell über mehr als 30 000 Sympathisant*innen. Nichtsdestotrotz sind auch bei LFI die »Mühen der Ebene« zu bewältigen. Die Dynamik des Wahljahres ist verschwunden. Die Debatte über die Zusammensetzung der Liste für die Europawahlen führte zum Verlust einiger prominenter Unterstützer*innen der ersten Stunde. Auch die Ergebnisse bei Nachwahlen für das französische Parlament blieben unter den Erwartungen. Die Hoffnung, durch einen formulierten Alleinvertretungsanspruch des progressiven Lagers eine Dynamik gegen Macron zu erzielen, hat sich nicht erfüllt.
Auf der Sommeruniversität von LFI am vorigen Wochenende deutete sich eine leichte Abmilderung der Positionen zur EU an. Zudem erklärte sich Mélenchon vorsichtig bereit, den Gesprächsfaden zu anderen französischen Linksparteien wieder aufzunehmen. Innerhalb der französischen Linken, die anders als die deutsche zutiefst entlang politischer und weltanschaulicher Gräben gespalten ist, finden kontroverse Debatte über LFI statt. Traditionelle Linksparteien, insbesondere die Kommunisten, beurteilen die neue Konkurrenz negativ. Gerade die PCF hat in der Vergangenheit versucht, ihr marxistisches Erbe so weit zu verbergen, dass sie teils nur noch als linksliberale Bürgerrechtspartei wahrzunehmen war. Mélenchon und seine Mitstreiter haben durch die Parti de gauche und später LFI Strukturen aufgebaut, die konsequente Kritik an Sozialabbau und neoliberaler europäischer Integration formulieren. LFI bleibt aber eine heterogene politische Organisation. Als neuer Akteur im linken Feld ist LFI dabei, einen Platz einzunehmen, wie ihn die Linkspartei in Deutschland hat. Nicht mehr und nicht weniger.
Bei den Wahlen punkteten LFI und Mélenchon vor allem in den urbanen Zentren und besonders bei jungen Menschen.
Der Autor ist Politikwissenschaftler in Marburg. Von ihm erschien u.a. »Der Front National. Geschichte, Politik und Wähler«, Köln 2015.