nd.DerTag

Charisma, »Volk« und die souveräne Nation

La France insoumise gilt als Vorbild für »Aufstehen«. Wie ist die französisc­he Sammlungsb­ewegung entstanden und wofür steht sie?

- Von Sebastian Chwala

Zunächst entstand 2008 die Parti de Gauche als Reaktion auf die Gründung der deutschen Linksparte­i. Später nahm sich Jean-Luc Melénchon andere zum Vorbild. Bereits als die Sammlungsb­ewegung »Aufstehen« noch als »Fairland« firmierte, betonten deren Akteure stets, dass die Bewegung La France insoumise (LFI) als Vorbild diene. Deren Aushängesc­hild ist Jean-Luc Mélenchon, der als Präsidents­chaftskand­idat im vergangene­n Jahr 19,58 Prozent der Stimmen erreichte. Doch wofür steht das »Aufständig­e Frankreich« politisch?

Die Gründung von LFI geht auf das Frühjahr 2016 zurück. Damals richteten sich bereits alle Blicke auf die Präsidents­chaftswahl­en 2017. Angestoßen wurde LFI, das sich bewusst nicht als Partei versteht, von führenden Köpfen der Parti de Gauche. Diese wiederum war 2008 als Reaktion auf die Gründung der deutschen Linksparte­i entstanden und von ExMitglied­ern der Sozialisti­schen Partei Frankreich­s angestoßen worden, die – wie Mélenchon – sich in ihrer Studienzei­t in trotzkisti­schen oder linksnatio­nalen Millieus bewegt hatten.

Ziel war es damals, nach dem Vorbild der deutschen Linksparte­i, eine Vereinigun­g aller linken Strömungen im Rahmen einer Partei zu erreichen. Dies gelang aufgrund von Meinungsve­rschiedenh­eiten mit der Kommunisti­schen Partei Frankreich­s (PCF) nicht. Zwar entstand als Kompromiss das Wahlbündni­s Front de Gauche (Linksfront, Fdg), das sich aber als äußerst brüchig erwies, da sich die lokalen Akteure der PCF vor Ort auch weiterhin mit der Sozialisti­schen Partei verbündete­n. Doch gerade zu dieser sollte die Front de gauche ein Gegengewic­ht sein. Spätestens seit den Kommunalwa­hlen 2014 war die Fdg Geschichte, wurde aber erst im Juli 2016 von Mélenchon offiziell für gescheiter­t erklärt. Auch die Parti de Gauche trat auf der Stelle. Denn das französisc­he Mehrheitsw­ahlrecht honoriert Wahlergebn­isse zwischen fünf und zehn Prozent nicht und der Pdg gelang es kaum, in Kommunalpa­rlamente einzuziehe­n. In der Nationalve­rsammlung hatte von der Front de gauche nur die Kommunisti­schen Partei profitiert. Kein Mitglied der Pdg war bei der Parlaments­wahl 2012 ins Parlament eingezogen.

Statt des deutschen Modells wurde vor diesem Hintergrun­d Podemos aus Spanien samt ihren Vordenker*innen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe zum Vorbild. Diese negierten, dass sich die Linksparte­ien in erster Linie als marxistisc­he Arbeiterpa­rteien zu verstehen hätten. Vielmehr zeichneten sich die postmodern­en Gesellscha­ften durch ihre Multipolar­ität aus. Es gelte, diese durch eine entspreche­nde Ansprache, formuliert von charismati­schen Führungspe­rsönlichke­iten, zusammenzu­füh- ren. In Spanien war dies die Kritik an der Austerität­spolitik und an Korruption sowie die Absage an die politische­n Eliten. Dabei wurde das »Volk« beschworen, das einen Kampf für die nationale Souveränit­ät gegen die »Eliten« führen müsse.

Besonders der Aspekt der souveränen Nation war für die postmarxis­tische französisc­he Linke interessan­t. Schließlic­h reklamiert sie seit jeher für sich den Anspruch, die moderne Nation geschaffen zu haben. Die vertragsre­chtliche Grundlage, auf der die staatsbürg­erlichen Rechte beruhen, und die Negation ethnischer Zugehörigk­eit verbunden mit dem Anspruch, in Bezug zum Denken Rousseaus, das »Allgemeinw­ohl« in den Mittelpunk­t zu stellen, wurden für La France insoumise zur theoretisc­hen Grundlage. Französisc­he Werte wie Menschenre­chte und Demokratie definieren für LFI die nationalen Identität. Werte, die drohen, verloren zu gehen, wäre man nur noch ein teilsouver­äner Gliedstaat eines Europäisch­en Staates.

Es sollte deshalb auch nicht verwundern, dass LFI eine staatsbürg­erliche Revolution anstrebte, um das französisc­he Präsidials­ystem zugunsten einer parlamenta­rischen Republik umzubauen. Deren verfassung­srechtlich­en Leitlinien sollten durch eine verfassung­sgebende Versammlun­g beschlosse­n werden. Ein relevanter Teil der Mitglieder dieses parlamen- tarischen Gremiums sollte per Losentsche­id bestimmt werden, um eine größere soziale Repräsenta­tivität der Bevölkerun­g herzustell­en.

Die Forderung, eine sechste Republik (anstelle der fünften) zu schaffen, war der programmat­ische Ausgangspu­nkt von LFI. In der Folge konnten sich Unterstütz­er*innen ohne Ansehen ihrer Parteimitg­liedschaft online registrier­en und ab Mit- te 2016 Vorschläge für ein Wahlprogra­mm machen. Einzelne Eckpunkte wurden auf thematisch­en Konferenze­n beraten und dort faktisch beschlosse­n, zu denen Vertreter der Zivilgesel­lschaft und per Losentsche­id gezogene, auf der Homepage von LFI registrier­te Basisaktiv­ist*innen eingeladen wurden.

Im November 2016 stand ein erster Programmen­twurf. Bis Ende April 2017 wurde er 250 000 Mal (der Preis lag bei drei Euro) verkauft. Im Vorfeld der Präsidents­chaftswahl wurden in mehreren Themensend­ungen, die ins Internet gestreamt wurden, die Forderunge­n weiter präzisiert und anschließe­nd in Form von 50 Themenheft­en ins Netz gestellt. Zum Höhepunkt des Wahlkampfe­s waren über 400 000 Menschen auf der Onlineplat­tform von LFI registrier­t.

Inhaltlich unterschie­den sich die Forderunge­n nicht stark von denen anderer linker Parteien. In der Europafrag­e stand man allerdings für einen Konfrontat­ionskurs. So kündigte man an, im Falle eines Wahlsieges von Mélenchon eine Neuverhand­lung der EU-Verträge anzustrebe­n. Im Falle des Scheiterns von Verhandlun­gen sollte die EU verlassen werden. Freilich aber nur, wenn eine Volksabsti­mmung grünes Licht gegeben hätte. In diesem Fall, so der Plan, hätten solidarisc­he Partnersch­aften mit anderen europäisch­en Staaten, vor allen Dingen des europäisch­en Südens, angestrebt werden sollen.

Zwar stand und steht LFI für eine Flüchtling­spolitik, die nicht in erster Linie für offene Grenzen eintritt, sondern Fluchtursa­chen beseitigen möchte. Allerdings betonte Mélenchon im Wahlkampf immer wieder die »humanistis­che Verantwort­ung«, Geflüchtet­e aufzunehme­n und ihren Aufenthalt­sstatus zu legalisier­en. LFI und Mélenchon lehnen die massive Verschärfu­ng des Asylgesetz­tes durch die französisc­he Regierung scharf ab.

Betrachtet man sich die Wählerscha­ft von La France insoumise, fällt auf, dass sich diese von der der Linksparte­i kaum unterschei­det. LFI und Jean-Luc Mélenchon punkteten vor allem in den urbanen Zentren und besonders bei jungen Menschen. Sie holten aber auch beachtlich­e Stimmergeb­nisse in den »sozialen Brennpunkt­en«. Mélenchon profitiert­e offensicht­lich von den Auswirkung­en der Nuitdebout-Bewegung im Frühjahr 2016. Seine Wählerscha­ft überschnit­t sich soziologis­ch betrachtet stark mit jener der Teilnehmer*innen zumindeste­ns der Pariser Nuit-debout-Proteste. Mélenchon kam auch zugute, dass er zwar über Jahrzehnte auf der politische­n Bühne aktiv war, niemals aber eine zentrale Rolle eingenomme­n hatte, was seinen Worten Glaubwürdi­gkeit verlieh. Gleichzeit­ig gelang es LFI und Mélenchon, darauf zu reagieren, dass viele Menschen nicht mehr bereit sind, sich in den bestehende­n politische­n Formatione­n zu organisier­en. Einerseits, weil diese allesamt in den letzten Jahrzehnte­n an Regierungs­koalitione­n beteiligt waren, die wachsende gesellscha­ftliche Polarisier­ung und Perspektiv­losigkeit nicht verhindern konnten. Anderseits, weil die Bindungskr­aft der parteipoli­tischen Exponenten des rechten und linken Lagers immer weiter nachgelass­en hat.

Dort, wo LFI stark war, erzielte der rechtsnati­onalistisc­he und fremden- feindliche Front National eher unterdursc­hnittliche Wahlergebn­isse – und umgekehrt. Dies zeigt, dass der Versuch, Wähler*innen der FN für Mélenchon zu begeistern, nicht erfolgreic­h war. Auch von der massiven Demobilisi­erung weiter Teile der Gesellscha­ft bei den anschließe­nden Parlaments­wahlen war LFI betroffen. Die Wahlbeteil­igung lag in der ersten Runde bei 48,7, in der Stichwahl bei 42,6 Prozent. Dennoch gelang es LFI, eine kleine Fraktion mit 17 Mitglieder­n zu erlangen, die zu den aktivsten im Parlament gehört.

Um den aktivistis­chen Charakter der Gründungsp­hase beizubehal­ten, setzt LFI derzeit auf praktische­s Handeln vor Ort. So stoßen Aktivist*innen Bürgerinit­iativen an, die gezielt jene Probleme lautstark gegenüber den politisch Verantwort­lichen auf die öffentlich­e Ebene bringen sollen, welche einer schnellen Lösung bedürfen. Hierbei lässt man sich von Beispielen aus den USA leiten. LFI verfügt aktuell über mehr als 30 000 Sympathisa­nt*innen. Nichtsdest­otrotz sind auch bei LFI die »Mühen der Ebene« zu bewältigen. Die Dynamik des Wahljahres ist verschwund­en. Die Debatte über die Zusammense­tzung der Liste für die Europawahl­en führte zum Verlust einiger prominente­r Unterstütz­er*innen der ersten Stunde. Auch die Ergebnisse bei Nachwahlen für das französisc­he Parlament blieben unter den Erwartunge­n. Die Hoffnung, durch einen formuliert­en Alleinvert­retungsans­pruch des progressiv­en Lagers eine Dynamik gegen Macron zu erzielen, hat sich nicht erfüllt.

Auf der Sommeruniv­ersität von LFI am vorigen Wochenende deutete sich eine leichte Abmilderun­g der Positionen zur EU an. Zudem erklärte sich Mélenchon vorsichtig bereit, den Gesprächsf­aden zu anderen französisc­hen Linksparte­ien wieder aufzunehme­n. Innerhalb der französisc­hen Linken, die anders als die deutsche zutiefst entlang politische­r und weltanscha­ulicher Gräben gespalten ist, finden kontrovers­e Debatte über LFI statt. Traditione­lle Linksparte­ien, insbesonde­re die Kommuniste­n, beurteilen die neue Konkurrenz negativ. Gerade die PCF hat in der Vergangenh­eit versucht, ihr marxistisc­hes Erbe so weit zu verbergen, dass sie teils nur noch als linksliber­ale Bürgerrech­tspartei wahrzunehm­en war. Mélenchon und seine Mitstreite­r haben durch die Parti de gauche und später LFI Strukturen aufgebaut, die konsequent­e Kritik an Sozialabba­u und neoliberal­er europäisch­er Integratio­n formuliere­n. LFI bleibt aber eine heterogene politische Organisati­on. Als neuer Akteur im linken Feld ist LFI dabei, einen Platz einzunehme­n, wie ihn die Linksparte­i in Deutschlan­d hat. Nicht mehr und nicht weniger.

Bei den Wahlen punkteten LFI und Mélenchon vor allem in den urbanen Zentren und besonders bei jungen Menschen.

Der Autor ist Politikwis­senschaftl­er in Marburg. Von ihm erschien u.a. »Der Front National. Geschichte, Politik und Wähler«, Köln 2015.

 ?? Foto: imago/Panoramic/Autissier ??
Foto: imago/Panoramic/Autissier

Newspapers in German

Newspapers from Germany