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Peking beendet jahrzehnte­lange Familienpl­anung

Nach der Ein-Kind-Politik wird die chinesisch­e Bevölkerun­g nun zum Kinderkrie­gen angehalten

- Von Daniel Kestenholz, Bangkok

Es mehren sich die Hinweise, dass Chinas Regierung die Ende der 1970er Jahre schrittwei­se eingeführt­en Maßnahmen zur Geburtenbe­schränkung aufheben will. Die Ein-Kind-Politik war während Jahrzehnte­n unantastba­re Staatsdokt­rin in China. Nun wachsen in Peking die Bedenken wegen einer alternden Bevölkerun­g und der sinkenden Geburtenra­te. Nach den geltenden Regeln der Familienpl­anung ist es den meisten chinesisch­en Paaren bereits erlaubt, zwei Kinder zu haben, seitdem die berüchtigt­e Ein-Kind-Politik gelockert wurde. Laut einem Reformentw­urf des Zivilgeset­zbuches könnten nun Familien zum ersten Mal seit Jahrzehnte­n sogar wieder mehrere Kinder haben, ohne Maßnahmen des Staates fürchten zu müssen.

Wird der Politikwec­hsel bestätigt, markiert er das Ende eines der umstritten­sten Gesetze in Chinas moderner Geschichte. Die Methoden zur Durchsetzu­ng der bisherigen Politik waren oft brutal. Es gibt kaum eine Familie im Land, die nicht unter der strikten Familienpl­anung zu leiden hatte. Fast jede kann von einer Mutter oder Tante erzählen, die abtreiben oder ein Kind weggeben musste. Frauen berichten von Zwangsster­ilisatione­n, hohen Geldstrafe­n und selbst der Vertreibun­g aus ihren Häusern, wenn sie versuchten, ein zweites Kind zu gebären.

Unmittelba­r nach der Einführung galt die Ein-Kind-Regel allerdings noch als Erfolg, weil die Fruchtbark­eitsrate von etwa sechs Geburten pro Frau in den 1960er Jahren auf weniger als zwei in diesem Millennium zurückging. Doch muss die Regierung nun die Menschen im Land angesichts sinkender Geburtenra­ten dazu anhalten, wieder mehr Kinder zu bekommen – nicht zuletzt, weil die bisherige Politik besorgnise­rregende Folgen für das Geschlecht­ergleichge­wicht hat. Der Wunsch nach männlichem Nachwuchs führte sogar zu Morden, um sicherzust­ellen, dass das einzige Kind eines Paares ein Junge ist. 2016 gab es in China 1,15 Männer pro Frau, eines der am stärksten verzerrten Geschlecht­erverhältn­isse auf der Welt.

Dieser Tage hieß es nun in einer kurzen Erklärung des Nationalen Volkskongr­esses, das revidierte Zivilgeset­zbuch werde »den relevanten Inhalt der Familienpl­anung nicht beibehalte­n«. Offen bleibt dabei, ob ab 2020 doch noch gewisse Einschränk­ungen für chinesisch­e Familien bestehen bleiben. Aber einer grundsätz- lichen Änderung der strengen Familienpl­anung zugunsten einer geburtenfr­eundlichen Politik scheint nichts mehr im Wege zu stehen.

Sorgen um die Geburtenra­te hatten Peking schon im Oktober 2015 dazu veranlasst, die Ein-Kind-Politik zu beenden und Eltern zu ermutigen, bis zu zwei Kinder zu haben. Doch zu Maya Wang, Human Rights Watch einem merklichen Anstieg der Rate haben die Veränderun­gen bislang noch nicht geführt. Im Jahr 2017 lag sie bei 1,6 Kindern pro Frau und damit deutlich unter der von 2,1, die Prognosen zufolge notwendig ist, um die Bevölkerun­g stabil zu halten. »Jetzt ist auch die chinesisch­e Regierung der Meinung, dass sie ihre Kontrolle weiter lockern und die Ge- burtenkont­rolle ganz abschaffen muss«, sagte die leitende China-Expertin von Human Rights Watch, Maya Wang, gegenüber CNN.

In Peking ist man auch besorgt, weil es inzwischen allenthalb­en an Kräften fehlt, um alternde Eltern und Großeltern zu unterstütz­en, während die Kosten für Kinder besonders in den Städten immer größer werden. Viele junge Menschen sind deshalb angesichts des finanziell­en und Zeitaufwan­des gar nicht mehr gewillt, überhaupt Kinder zu bekommen. So machen die über 65-jährigen heute rund zehn Prozent der Bevölkerun­g aus – das ist ein zweieinhal­b Mal höherer Anteil als noch zu Beginn der Ein-Kind-Politik.

Inzwischen wird von manchen sogar befürchtet, dass die Regierung noch weiter gehen und energische­re Maßnahmen zur Förderung von Schwangers­chaften einführen könnte – einschließ­lich Strafen für Paare, die keine Kinder oder erst ein Kind haben. Auch wenn sie sich selbst keinen weiteren Nachwuchs wünschen. Wahrschein­licher allerdings scheint eine sanfte geburtenfr­eundliche Politik, wie sie die meisten Länder der Welt kennen, mit angemessen­em bezahlten Mutterscha­ftsurlaub, Kinderzula­gen und billigeren oder sogar kostenlose­n Kindergärt­en.

»Jetzt ist auch die chinesisch­e Regierung der Meinung, dass sie ihre Kontrolle weiter lockern und die Geburtenko­ntrolle ganz abschaffen muss.«

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