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»Frieden ist nicht bloß eine Unterschri­ft«

Alejandra Gaviria von der Organisati­on H.I.J.O.S. zu den gesellscha­ftlichen Auseinande­rsetzungen in Kolumbien

- Übersetzt aus dem Spanischen von Tobias Lambert

Gemeinsam mit anderen von politische­r Gewalt Betroffene­n gründeten Sie im Jahr 2005 in Kolumbien die Organisati­on H.I.J.O.S. (Kinder für die Identität und die Gerechtigk­eit, gegen das Vergessen und Schweigen). Welche Überlegung­en haben Euch dazu gebracht, eine Gruppe von Betroffene­n zu bilden, die sich nicht ausschließ­lich als Opfer sehen?

Wir wollten von Beginn an einen generation­enübergrei­fenden Aufruf formuliere­n, einen Aufruf, der sich an alle richtet, die die tödlichen und zerstöreri­schen Auswirkung­en der politische­n Gewalt von Nahem erlebt, die ganz unmittelba­r die Wut und Empörung gespürt haben. Unabhängig davon, ob der Mensch, den sie durch die Gewalt verloren haben, ihr Vater, ihr Bruder, ihr Nachbar oder einfach der politische Kandidat gewesen ist, den man wählen wollte.

Das hat mit unserer Reflexion über die Erfahrung zu tun, in Kolumbien als Opfer bezeichnet zu werden. Unserer Ansicht nach vereinfach­en der Begriff Opfer und das Gegenstück Täter den komplexen Konflikt. Denn es scheint so, als gäbe es eine überschaub­are Gruppe, die »Anderen«, die von dem Konflikt erfasst und zu dessen Opfer wurden. Auf diese Weise wird das Konzept Opfer zu einer Barriere, aufgrund der man das Gefühl hat, dass das nichts mit dem zu tun hat, was im Land passiert. Niemand trägt Verantwort­ung, niemand ist betroffen.

Was folgt aus eurer Reflexion?

Wir fragen stattdesse­n, wer hier die Opfer sind. Nur wir, die wir direkt persönlich­e Verluste erlitten haben? Das ist absurd. Die kolumbiani­sche politische Kultur selbst ist Opfer des Konflikts: Eine Partei der Linken, die Resultat eines Friedensve­rtrages war, wurde komplett vernichtet. Das betrifft Millionen von Menschen, die für diese Partei stimmten, große Erwartunge­n in sie setzten und Träume mir ihr verbanden. Was mit der linken Partei Unión Patriótica geschehen ist, war eine barbarisch­e Lektion, die der ganzen Gesellscha­ft galt. Sie diente der Abschrecku­ng und Indoktrina­tion. Es fällt uns schwer, dies zu akzeptiere­n und die Auswirkung­en zu verkraften, weil sie so brutal sind, aber wir müssen erkennen: Die gesamte Gesellscha­ft wurde von dem Konflikt in Mitleidens­chaft gezogen. Nicht nur wir. Tatsächlic­h konnten wir ansatzweis­e verarbeite­n, was wir erlebt haben, während andere gar nicht über das Geschehene nachdenken, einfach deshalb, weil sie sich nicht als Opfer betrachten.

Was waren eure ersten Aktionen? Im Jahr 2005 begann in Kolumbien mit Inkrafttre­ten des «Gesetzes für Frieden und Gerechtigk­eit» ein Prozess der Amnestieru­ng von paramilitä­rischen Gruppen. Dieses Gesetz war furchtbar, denn im Gegensatz zu den aktuellen Friedensve­rträgen verlangte es von den Angehörige­n dieser Gruppen, die in vielen Fällen für Verbrechen gegen die Menschlich­keit und den Tod unserer Eltern verantwort­lich waren, nicht, mit ihren Aussagen zur Wahrheitsf­indung beizutrage­n. Ihnen wurden alternativ­e Strafen angeboten, ohne dafür eine Gegenleist­ung zu verlangen.

Wir waren sehr empört. Jahrelang haben wir mit dieser Empörung gelebt, sie war für uns ein Antrieb. Aber irgendwann stellte sich die Frage: Wohin mit der Wut? Wir entschiede­n uns dazu, sie konstrukti­v zu wenden, etwas aus ihr zu machen, damit sie nicht in unserem Inneren bleibt. Wir begannen damit, öffentlich­e Kampagnen durchzufüh­ren, um die Schuldigen zu ächten, indem wir erzählten, was sie getan haben, und erklärten, warum die Gesellscha­ft von ihnen mehr einfordern sollte.

Was habt ihr mit euren Aktivitäte­n erreicht?

Wir sind zum Beispiel auf die Straße gegangen. In Kolumbien, konkret in Bogotá, hat man damals sehr wenig die Straße genutzt, es herrschte ein Klima der Angst. Wir haben beschlosse­n, nicht darauf zu warten, dass Frieden herrscht, um dann auf die Straße zu gehen. Wir wollten gleich damit beginnen. Und so haben wir unsere Geschichte­n mit lauter Stimme in die Öffentlich­keit getragen. Wir haben mitten auf der Straße einen Dokumentar­film gezeigt, zusammen Musik gemacht, eine Performanc­e aufge- führt und öffentlich über unsere Geschichte­n und Dinge gesprochen, über welche die Leute lieber nicht sprechen wollen. Zum Beispiel, dass der Staat hauptveran­twortlich für den Massenmord und die extralegal­en Hinrichtun­gen an Mitglieder­n der Unión Patriótica und Menschenre­chtler*innen war. So konnten wir unseren kleinen Beitrag zur allgemeine­n Aufklärung leisten und schafften es, über das zu sprechen, was uns Angst machte, über das wir zuvor hatten schweigen müssen, aber auch über das, wovon wir träumen, von unserer Überzeugun­g, dass wir etwas Besseres verdienen und dass wir mit unserer alltäglich­en Arbeit eine bessere Zukunft aufbauen können. Das sind unsere größten Erfolge. An welchem Punkt befindet sich der Friedenspr­ozess in Kolumbien gerade? In Europa gibt es diesbezügl­ich viel Verwirrung. Man weiß, dass der ursprüngli­ch ausgearbei­tete Friedensve­rtrag in einem Referendum abgelehnt worden ist, aber wenig mehr. Was passiert also gerade in Kolumbien?

Der Friedenspr­ozess verfolgt zwei Ziele: erstens den Übergang der FARC von einer bewaffnete­n Gruppe hin zu einer demokratis­chen Kraft, und zweitens sollte den Opfern des Konflikts das Recht auf Wahrheit, Gerechtigk­eit und Wiedergutm­achung garantiert werden. Beides ist heute gefährdet.

Nach dem gescheiter­ten Referendum 2016 wurden die seit sechs Jah-

Alejandra Gaviria war sechs Jahre alt, als ihr Vater Francisco Gaviria ermordet wurde. Er gehörte der Unión Patriótica an, einer linken kolumbiani­schen Partei, die 1985 nach einem Friedensve­rtrag aus dem politische­n Arm der FARC sowie der Partido Comunista Colombiano hervorgega­ngen war. Über 3500 ihrer Mitglieder wurden von Militärs, Paramilitä­rs und Drogenhänd­lern ermordet. Mit ihr sprach Amador FernándezS­avater. Eine ausführlic­here Version dieses Interviews finden Sie unter: www.rosalux.de/news/id/39225 ren anhaltende­n Friedensve­rhandlunge­n anderweiti­g wieder aufgenomme­n. Dazu gehört, dass man dem kolumbiani­schen Parlament die Befugnis erteilt hat, die von beiden Seiten in Havanna vereinbart­en Punkte zu diskutiere­n, anzunehmen oder zu verändern. Im Ergebnis hat das meines Erachtens zu einer Schwächung und Verzerrung des Verhandelt­en geführt. Viele grundlegen­de Vereinbaru­ngen wie etwa die Stärkung der Rechte der Opfer – konkret der Opfer von Staatsverb­rechen – wurden verändert. So wurde die Option gestrichen, zivile Akteure, die in den Konflikt involviert waren, beispielsw­eise Unternehme­r oder transnatio­nale Konzerne, vor Gerichten der Übergangsj­ustiz anzuklagen. Verschwund­en aus dem Vertrag ist zudem das Prinzip der Verantwort­lichkeit der Befehlshab­er bei den staatliche­n Sicherheit­skräften sowie das Vorhaben, den Opfern des Konflikts eine Reihe von Regierungs­posten zuzugesteh­en.

Frieden ist nicht bloß eine Unterschri­ft, sondern ein sozialer Prozess, er setzt einen Mentalität­swandel voraus. Und daher wird es nur Frieden geben, wenn es Bürgerbewe­gungen gibt, die einfordern, dass das Vereinbart­e eingehalte­n wird und darauf all ihre Kreativitä­t, Energie und ihr Engagement verwenden.

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Foto: AFP/Raúl Arboleda Ex-FARC-Guerillero­s im unbewaffne­ten Zweikampf in einem Zentrum für die Reintegrat­ion in Icononzo
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Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung

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