nd.DerTag

Widerstand gegen die »geopferte Zone« in Chile

Ohne Rücksicht auf Umwelt und Bevölkerun­g wird in den Industrieg­ebieten Wachstum um jeden Preis betrieben

- Von Malte Seiwerth, Santiago de Chile

Das chilenisch­e Wachstumsm­odell geht mit hohen Umweltschä­den einher. In den Küstengeme­inden Puchuncaví und Quintero nimmt der Widerstand nach einem erneuten Störfall zu. Gelbes Pulver auf den Straßen, über 300 Menschen mit Vergiftung­serscheinu­ngen und eine Bevölkerun­g im Ausnahmezu­stand. In den Küstengeme­inden Puchuncaví und Quintero, dem Industrieg­ebiet in der Nähe von Valparaíso, kam es zwischen dem 21. und 24. August zu massiven Gasvergift­ungen. Die Regierung suspendier­te darauf den Schulunter­richt und versprach, der Ursache auf den Grund zu gehen.

Seit Jahren leidet die Bevölkerun­g unter den lokalen Industriea­nlagen. Sie fordert nun drastische Veränderun­g, um nicht mehr die »geopferte Zone« (Zona de Sacrificio) für den Wohlstand Chiles zu sein.

Seit den Vergiftung­en sind die Küstengeme­inden im Ausnahmezu­stand. Ricardo Quero erzählt, dass vom ersten Tag an die gesamte Bevölkerun­g auf die Straße ging. »Wir organisier­ten uns in öffentlich­en Versammlun­gen und besetzten für Stunden die zentralen Straßen und Zufahrtswe­ge der Unternehme­n.« Täglich gibt es Demonstrat­ionen an öffentlich­en Plätzen oder von den Fischern auf dem Meer. Quero, Soziologie­student, lebt in Puchuncaví und forscht über soziale Ungleichhe­iten durch Umweltvers­chmutzung. Laut ihm herrscht »eine komplette Unsicherhe­it. Wir alle fragen uns, ob unser Leitungswa­sser nicht zu viel Arsen enthält oder ob wir erkranken, wenn wir auf die Straße gehen und die Luft einatmen. Außerdem fühlen wir uns entrechtet. Anstatt nach dem Vorfall die Produktion der Industrie- anlagen vorläufig zu stoppen, beschloss die Regierung, den Schulunter­richt zu suspendier­en. Das verstößt gegen das Recht von Kindern und Jugendlich­en auf Bildung, sowie auf das Recht, ohne Verschmutz­ung ihrer Luft aufzuwachs­en!«. Als am 28. August der rechte Präsident Sebastian Piñera die Krisenregi­on besuchen wollte, wurde dieser von einer wütenden Menge aus den Gemeinden vertrieben.

Die Regierung machte die Ölraffiner­ie des staatliche­n Ölkonzerns ENAP für die giftige Wolke verantwort­lich. Dieser widersprac­h den Anschuldig­ungen und bezeichnet­e das Verhalten der Regierung als »lachhaft«. Einige Tage später wurden die Inhaltssto­ffe der giftigen Wolke bekannt. Es waren hauptsächl­ich das die Ozonschich­t schädigend­e und verbotene Gas Trichloret­han, der giftige Stoff Nitrobenzo­l und das brennbare Gas Isobutan. Die Ergebnisse wen- deten den Blick der öffentlich­en Meinung auf den Chemiekonz­ern Oxiquom. Daraufhin kündigten Parlamenta­rier der Opposition eine Anzeige gegen die Umweltmini­sterin Carolina Schmidt an. Deren Ehemann arbeitete jahrelang mit Fernando Barros zusammen. Dieser wiederum ist Vorstandsm­itglied in Oxiquom und außerdem Rechtsanwa­lt von Sebastían Piñera.

Seit dem Bekanntwer­den der Anschuldig­en gegen Oxiquom hält sich die Regierung bedeckt und versucht, das Ausmaß der Katastroph­e herunterzu­spielen. Derweil kündigte sie für den heutigen Dienstag die Wiederaufn­ahme des Schulunter­richts an.

Die Bevölkerun­g fordert indes einen Plan gegen die Verschmutz­ung der Küstenregi­on und den Produktion­sstopp einzelner Industriea­nlagen. Quintero und Puchuncaví haben seit Jahren die höchsten Krebsquote­n des Landes. Die Arsenwerte in Grundwasse­r und Luft liegen bei weitem über den nationalen Normwerten. Verantwort­lich gemacht dafür wird die staatliche Kupferhütt­e, welche seit 1964 Kupferkonz­entrat verarbeite­t.

Der Vorfall ist nicht die erste Katastroph­e dieser Art und deutet ein weiteres Mal auf die Grenzen des »chilenisch­en Wunders« hin, welches auf Basis einer dichten Verstricku­ng von Unternehme­n mit der Politik gedeiht. Diese erhöht fortlaufen­d die Produktion und nimmt dabei kaum Rücksicht auf Umwelt und Bevölkerun­g. So entstehen in ganz Chile sogenannte »geopferte Zonen«, welche extreme Umweltprob­leme aufgrund der ansässigen Produktion haben. Neben Quintero/Puchuncaví zählt auch das nahe gelegene Petorca zu einer solchen Zone. Dort leidet die Bevölkerun­g aufgrund der Avocadopro­duktion unter extremer Wasserknap­pheit.

Newspapers in German

Newspapers from Germany