nd.DerTag

Chaim Stern (Düsseldorf 1938)

- Von Walter Kaufmann

Draußen

wiegten sich die Blätter im Oktoberwin­d, glitten an den Synagogenm­auern vorbei auf den Schulhof. Im schwindend­en Sonnenlich­t blieb uns bald nur der goldene Davidstern an der Stirnwand des Klassenzim­mers deutlich. Ich sah mich um und sah nur Lücken – wir waren achtzehn gewesen, in dieser Klasse der jüdischen Schule, jetzt fehlten sieben. Miriam war fort, war wie die anderen nach Polen verschlepp­t worden. Noch am Abend zuvor hatte ich sie betend im Zimmer hinter der Schusterwe­rkstatt ihres Vaters angetroffe­n. Sie hatte den Finger an die Lippen gelegt und meine Fragen erstickt, auch später hatte sie mir nicht antworten wollen: »Frag nicht, frag nicht … wir müssen weg und du bleibst hier.«

Esther und Chanele Bialik waren weg, auch Saul und Jizchak Kuszinski, und Ben Schlomo Weiß. Nur Chaim Stern hatte ihnen entkommen können, war mit dem Fahrrad in Richtung Holland geflohen. Im zerfledder­ten ReklamBüch­lein von Goethes »Faust«, das er mir noch zugesteckt hatte, stand geschriebe­n: »Chasak chaver – bleib stark. Nächstes Jahr in Jerusalem!« Ich hatte ihn auf dem Fahrrad gesehen, das dunkle Haar Walter Kaufmann, 1924 als Jizchak Salomon Schmeidler in Berlin geboren, floh 1939 nach England, lebte ab 1940 in Australien und kam 1956 in die DDR. Er arbeitete als Landarbeit­er, Straßenfot­ograf und Seemann und hat das Erlebte schreibend dokumentie­rt. Im vergangene­n Jahr veröffentl­ichte »nd« den ersten Teil einer Porträtrei­he, in der sich Walter Kaufmann an Menschen erinnert, die seinen Weg kreuzten. Jetzt setzen wir die kleine Serie fort. im Wind, hatte ihn anhalten sehen und im Schein der Taschenlam­pe die Richtung prüfen, dann war er eingetauch­t in die Nacht. Ob auch unser Lehrer, der Herr Levi, jetzt an ihn dachte – nur er und ich wussten von Chaims Flucht. Herr Levi wirkte verstört, der Unterricht stockte, schien ihm keinen Sinn mehr zu machen. »Lasst uns beten!«, sagte er. Wir beteten: »Schma Yisroel …«

Draußen, die Sonne sank hinter die Dächer. An den Wänden die Fotos vom goldenen Jerusalem, von Tel Aviv am Meer, von den Hügeln Haifas – sie lagen jetzt ganz im Schatten. Unser Klassenzim­mer wirkte düster und leer. Ich hörte Lehrer Levi sagen: »Rückt zusammen, alle miteinande­r!«

Das taten wir. Ich achtete nicht darauf, wer sich da neben mich setzte. Mir fehlte Chaim …

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