Pogrome in der Ukraine
Rechtsradikale Gruppen machen in der Ukraine Jagd auf Roma und vertreiben sie aus ihren Lagern
Rechtsradikale Überfälle auf Roma-Siedlungen häufen sich.
Im Juni begann eine Gewaltkampagne gegen Roma, die den ganzen Sommer anhielt. Betroffene Roma werfen der Polizei vor, mit Nazigruppen zusammenzuarbeiten. Viele hoffen auf eine Zukunft in der EU.
Wenn man den 47-jährigen Familienvater Gudlo Baltschewitsch am Stadtrand von Kiew trifft, spürt man von der ersten Sekunde an seine Besorgnis. »Wir Roma waren hier in der Ukraine nie besonders beliebt. Wenn einer von uns ein Verbrechen begeht, dann wird daraus meist gleich ein Riesenthema. Das ist unfair«, erzählt er. Genau wie seine Frau arbeitet er in einem kleinen Lebensmittelgeschäft. Viel Geld verdienen sie damit nicht, dennoch können sie durch zusätzliche Nebenjobs und kleinere Verdienstmöglichkeiten ihre beiden knapp über zehn Jahre alten Kinder halbwegs ernähren. Anders als viele andere Roma sprechen sie gut Russisch. Auch auf Ukrainisch können sie sich ordentlich verständigen – das half der Familie Baltschewitsch, überhaupt an eine Arbeit zu kommen.
»Ich bin bis heute überrascht, dass wir nicht nur als bloße Reinigungskräfte arbeiten«, erzählt Gudlo weiter. »Man ist uns gegenüber generell sehr misstrauisch, weil wir angeblich viel klauen. Deswegen haben wir mit einer Tätigkeit in der Verkaufsbranche nicht unbedingt gerechnet.« Die Familie Baltschewitsch gilt als vergleichbar integriert. Anders als viele Roma lebt sie in einer kleinen Einzimmerwohnung und nicht in einem Roma-Lager. Davon gibt es nach Angaben der ukrainischen Polizei im ganzen Land circa 3100 in denen mehr als 100 000 Menschen leben. Ein Umzug in eines der Lager kommt für die vierköpfige Familie nicht infrage. Dennoch hat Gudlo große Angst.
Die zahlreichen Überfälle auf Roma-Lager begannen im April im Kiewer Bezirk Lysa Hora. In der Nacht vom 20. April, dem Geburtstag von Adolf Hitler, auf den 21. April griff die radikale Nationalistengruppie- rung S14 die dort ansässigen Roma brutal an. »Es gibt keine Zigeuner am Lysa Hora mehr«, schrieb S14-Koordinator Serhij Masur danach auf seiner Facebook-Seite. »Nur wenige haben unsere Forderung erfüllt und den Park friedlich im Voraus verlassen. Dann haben wir gegenüber den anderen Bewohnern bewiesen, dass unsere Forderungen eben dem Gesetz entsprechen – und sie haben schließlich die Gegend ebenfalls verlassen. Dann haben wir aufgeräumt und den Restmüll verbrannt.«
Tatsächlich geben sich die Anhänger der Gruppe S14 Mühe, den Vorgang zu verharmlosen. Eigene Fotos im Netz zeigen lediglich, wie Mitglieder den Müll aufräumen. Doch es sind auch andere Videos im Internet gelandet auf denen zu sehen ist, wie Frauen und Kinder vor den Nationalisten wegrennen müssen. »Das war brutal«, erzählt eine Augenzeugin, die anonym bleiben möchte. »Erst sind nur wenige Männer gekommen, die das Verlassen des Lagers forderten. Danach kamen Leute in Sturmmasken, die anfingen, das Lager anzuzünden. Die Roma haben ihr Hab und Gut verlassen und sch in einer Garage verbarrikadiert. Die Polizei kam erst deutlich später zum Tatort.« Mittlerweile haben fast alle Roma aus dem Lager nicht nur Lysa Hora, sondern die Stadt Kiew verlassen. Die meisten gingen wie von S14 gefordert nach Transkarpatien.
Das offizielle Kiew hat auf den Vorfall mit Desinteresse reagiert. Der ukrainische Innenminister Arsen Awakow äußerte sich erst vier Tage nach dem Angriff am Lysa Hora zu dem Vorfall. Tatsächlich wird die Gruppe S14 oft mit dem ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU in Verbindung gebracht. Deshalb ist es nicht überraschend, dass sich die gewaltsame Übergriffe auf Roma im gesamten Land häufen, so gab es Ende Mai in der westukrainischen Region Ternopil ebenfalls Übergriffe. Auch im Kiewer Bezirk Lysa Hora wiederholten sich Anfang Juni die Überfälle. In diesem Fall stellte die rechtsradikale Organisation Nationale Gefolgschaft zuerst ein Ultimatum an die Roma, um dann das Lager gewaltsam zu räumen. »Wir machen einen Subotnik und säubern den Park vom Müll«, hieß es in einer Meldung der Organisation.
Doch der Fall, über den die Ukraine den gesamten Sommer über spricht, hat am 23. Juni in der westukrainischen Metropole Lwiw stattgefunden. Eine Gruppe maskierter junger Nationalisten attackierte mit Messern ein Roma-Lager am Stadtrand von Lwiw. Dabei kam der 24jährige Bewohner David Pop, aus Transkarpatien stammend, ums Leben. Drei weitere Menschen wurden verletzt. Bei einem der Opfer handelt es sich um eine 30-jährige Frau, die ihren kleinen Sohn mit ihrem Körper verteidigen wollte. Dennoch wurde auch das zehnjährige Kind verletzt. Auffällig viele der Neonazis sind nicht einmal volljährig. Viele Angreifer waren zwischen 16 und 17 Jahren alt. Angeführt wurde die Gruppe von einem 20-Jährigen. Der Überfall in Lwiw hat eine traurige Vorgeschichte: Im Dezember 2017 griff das sogenannte Bataillon Lwiw 20 Roma-Familien an. Sowohl damals als auch in dem aktuellen Fall blieb eine Reaktion der ukrainischen Behörden aus.
»Weil eine harte und entscheidende Reaktion fast immer ausbleibt, glauben die Rechtsradikalen, sie können so etwas problemlos und strafffrei machen«, urteilt der Jurist Oleh Myzyk, der sich mit der RomaThematik ständig befasst. Die öffentliche Statistik bestätigt seine Einschätzung. Innerhalb von zwei Monaten kam es zu insgesamt sechs Angriffen auf Roma-Lager. Ein Besuch in die Gegend von Lwiw, in der der Vorfall stattgefunden hat, verdeutlicht, wie unterschiedlich die Reaktionen in der Gesellschaft aussehen. »Dass irgendwelche Leute ein Gebiet illegal besetzt und dort unter schrecklichen Bedienungen gelebt haben, ist an sich schon schlimm«, erzählt die 67-jährige Rentnerin Tetjana. »Aber wir wissen auch, wie groß die gesellschaftliche Gefahr ist, die von diesen Zigeunern ausgeht. Ich will nicht sagen, dass ich die Me- thoden unterstützte, es wäre aber schön, weniger Zigeuner im Alltagsleben zu sehen.«
Die 46-jährige Lehrerin Olena hat diesbezüglich eine andere Meinung. »Ich arbeite als Ukrainischlehrerin und wir haben an der Schule viele Roma-Kinder, die teilweise kaum lesen können. Das zeigt, wie schwierig die Integration läuft – und sie ist eben keine Einbahnstraße, auch Roma tragen daran Schuld. Das verursacht auch die vergleichbar hohe Kriminalität«, sagt sie und fügt hinzu: »Aber
Gewalt ist nie die richtige Antwort. Sie wird die Konfrontation mittel- und langfristig verstärken und unsere Probleme verschärfen.« Auch der 35jährige Andrij, ein arbeitsloser Ingenieur, teilt ihre Meinung: »Was Nationalisten leider nicht verstehen ist, dass Nationalismus keine Lösungen für solche schwierigen Situationen anbietet.«
In einem kleinen Dorf wenige Kilometer südlich von Kiew entfernt gibt es zwar keine Roma-Lager, doch etwa die Hälfte der Bevölkerung sind Roma. Hier zeigt man sich nicht überrascht, dass es in der Ukraine zu Pogromen kommt. »In Zeiten der Unsicherheit wird unser Volk oft zur Zielscheibe. Zudem sehen auch wir, dass eine Reihe der radikalen Gruppierungen auf die eine oder andere Art mit dem Staat zusammenarbeiten«, erzählt David. »Wir sind erst einmal froh, dass die Polizei an diesen Angriffen nicht teilnimmt. Das wäre meiner Meinung nach gar nicht so unrealistisch.«
»Eigentlich versuchen die meisten von uns, an einem Ort zu leben und nicht durch das ganze Land zu reisen, wie das viele Leute und einige Medien hier in der Ukraine darstellen«, erklärt ein anderer Bewohner, der seinen Namen nicht nennen will. »Und diejenigen von uns, die klauen und Verbrechen begehen, haben in unserer Community nichts verloren. Gerade dort, wo sich unsere Lager befinden, ist das streng verboten. Und die, die es trotzdem machen, werden meist von anderen Roma geschlagen. Ich sage nicht, dass es gut ist, das will aber sowieso keiner erleben.« Der 57-jährige Mirceau, dessen Sohn vor zehn Jahren in die EU gegangen ist, meint zudem: »Wir haben die aktuelle Situation schon vor zwölf bis 13 Jahren kommen sehen. Seitdem wird es für Roma immer schwieriger, Arbeit zu finden. Man wird immer öfter abgewiesen, wenn der Arbeitgeber von deinen Wurzeln erfährt. Deswegen gehen heute auch immer mehr Leute in die EU. Dort kriegt man mit etwas Glück eine Arbeit und wir werden als Volk in der Regel in Ruhe gelassen.«
Wie sieht das der Verkäufer im Lebensmittelladen Gudlo Baltschewitsch? »Für mich wäre die Auswanderung hart, aber wenn unsere Kinder groß werden, ist das für sie definitiv eine Option. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie wir das finanziell hinkriegen sollen«, antwortet er. »Generell macht die Tendenz auch mir Angst. Mir ist aufgefallen, dass mein Aussehen öfter und aggressiver angesprochen wird als üblich, wenn unsere Kunden im Laden betrunken sind. Jeder kann sich ausmalen, wohin diese Entwicklung führen könnte.« Das ukrainische Innenministerium ist damit zumindest verbal nicht einverstanden: »Wir werden dafür sorgen, dass Roma und Vertreter anderer Minderheiten in der Ukraine sicher leben können. Wir sind ein offenes und tolerantes Land.« In der Praxis ist davon jedoch oft wenig zu spüren.
»In Zeiten der Unsicherheit wird unser Volk oft zur Zielscheibe. Zudem sehen auch wir, dass eine Reihe der radikalen Gruppierungen auf die eine oder andere Art mit dem Staat zusammenarbeiten.«
David, Roma aus Kiew