Zehntausende für ein solidarisches Chemnitz
»Wir sind mehr«-Konzert gegen Rassismus / Dritter Verdächtiger nach Messerattacke gesucht
Bekannte Bands wie die Toten Hosen, Kraftklub, Materia und Feine Sahne Fischfilet haben am Montag in Chemnitz gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gespielt. Wenn Rodrigo González von der Band Die Ärzte und Campino von den Toten Hosen – einst konkurrierende Punkbands – gemeinsam auf der Bühne grölen, weiß man, die Situation ist ernst. Auch andere Bands hatten die rassistischen Ausschreitungen der vergangenen Tage in Chemnitz so bewertet und sich am Montagabend dem Konzertevent »Wir sind mehr« angeschlossen, darunter Kraftklub, Materia und Feine Sahne Fischfilet. Rund 65 000 Menschen besuchten nach Zählung der Stadt das Konzert.
Die Veranstaltung war eine Reaktion auf den gewaltsamen Tod eines 35-jährigen Deutschkuba- ners vor gut einer Woche sowie darauf folgenden rassistischen Ausschreitungen. Pro Chemnitz, AfD und Pegida hatten neben Hooligans und Naziparteien maßgeblich die Proteste initiiert.
Mit dem Konzert wollten die beteiligten Musiker ein Zeichen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit setzen. »Wir sind nicht naiv. Wir geben uns nicht der Illusion hin, dass man ein Konzert macht und dann ist die Welt gerettet«, sagte Kraftklub-Sänger Felix Brummer vor Beginn des Open Airs. »Aber manchmal ist es wichtig zu zeigen, dass man nicht allein ist.«
Die Opferberatung der Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie Sachsen hat vergangene Woche 34 Angriffe im Zuge der rechtsradikalen Versammlungen in Chemnitz gezählt. Insgesamt registrierte man 23 Fälle von Körperverletzungen und elf Fälle von Nötigungen und Bedrohungen, welche sich gegen Migranten, Journalisten und Gegendemonstranten gerichtet hatten. »Die Ereignisse zeigen, dass Rassismus virulent ist in der Gesellschaft«, so Andrea Hübler von der Opferberatung.
Für das Zeigen des Hitlergrußes bei einer Demonstration Ende August müssen sich vermutlich zwei Chemnitzer vor Gericht verantworten. Gegen die 32 und 34 Jahre alten Männer seien beim Amtsgericht Chemnitz Anträge auf Entscheidung im beschleunigten Strafverfahren gestellt worden, teilte die Generalstaatsanwaltschaft Dresden am Dienstag mit.
Wegen der Messerattacke sitzen bereits seit rund einer Woche zwei Tatverdächtige in Untersuchungshaft. Wie Polizei und Staatsanwaltschaft von Chemnitz mitteilten, wird seit Dienstag auch ein 22-jähriger irakischer Asylbewerber wegen Verdachts auf gemeinschaftlichen Totschlag per Haftbefehl gesucht.
Nach den rechten Ausschreitungen möchte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Chemnitz nach Angaben der Stadt besuchen. Merkel habe dies in einem Telefonat mit der Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) angeboten, teilte die Pressestelle der Stadt am Dienstag mit. Ludwig nehme »das Angebot gern an«.
Gänsehautstimmung in Chemnitz. Aus 65 000 Kehlen, jung wie alt, politisch wie weniger politisch, brüllt es am Montagabend »Alerta, Alerta – Antifascista!« Das Konzertevent »Wir sind mehr« hatte alle Erwartungen übertroffen. Und damit Wort gehalten. Am Montag war nach tagelangen neonazistischen Ausschreitungen das antifaschistische Chemnitz in der Überzahl. Ausgebrannte Aktivisten konnten Kraft tanken, Geflüchtete fanden einen sicheren Ort. Das Programm war entgegen zahlreicher Befürchtungen kritisch: Von Nazigewalt Betroffene kamen zu Wort. Die Künstler ließen sich weder von dem Lob von Steinmeier und Maas vereinnahmen, noch distanzierten sie sich von Linksradikalen aufgrund der Diffamierungen einer Kramp-Karrenbauer. So gut wie jede Band wies darauf hin, dass das Engagement nach dem Konzert weitergehen müsse.
Genau dies wird die Herausforderung für die kommende Zeit sein: Den Elan von Montag in die anstrengenden Alltagskämpfe zu überführen; neue Mitstreiter zu begeistern und diese in die antifaschistischen und zivilgesellschaftlichen Strukturen einzubinden. Ein paar Konzertbesucher gehen vielleicht mal auf eine Demo. Andere fühlen sich nun ermutigt, im Betrieb, in der Familie oder am Stammtisch rassistischer Hetze zu widersprechen. Auch das ist wichtig. Die nächsten rassistischen Krawalle kommen gewiss.