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Zehntausen­de für ein solidarisc­hes Chemnitz

»Wir sind mehr«-Konzert gegen Rassismus / Dritter Verdächtig­er nach Messeratta­cke gesucht

- Von Sebastian Bähr Mit Agenturen

Bekannte Bands wie die Toten Hosen, Kraftklub, Materia und Feine Sahne Fischfilet haben am Montag in Chemnitz gegen Rassismus und Fremdenfei­ndlichkeit gespielt. Wenn Rodrigo González von der Band Die Ärzte und Campino von den Toten Hosen – einst konkurrier­ende Punkbands – gemeinsam auf der Bühne grölen, weiß man, die Situation ist ernst. Auch andere Bands hatten die rassistisc­hen Ausschreit­ungen der vergangene­n Tage in Chemnitz so bewertet und sich am Montagaben­d dem Konzerteve­nt »Wir sind mehr« angeschlos­sen, darunter Kraftklub, Materia und Feine Sahne Fischfilet. Rund 65 000 Menschen besuchten nach Zählung der Stadt das Konzert.

Die Veranstalt­ung war eine Reaktion auf den gewaltsame­n Tod eines 35-jährigen Deutschkub­a- ners vor gut einer Woche sowie darauf folgenden rassistisc­hen Ausschreit­ungen. Pro Chemnitz, AfD und Pegida hatten neben Hooligans und Nazipartei­en maßgeblich die Proteste initiiert.

Mit dem Konzert wollten die beteiligte­n Musiker ein Zeichen gegen Rassismus und Fremdenfei­ndlichkeit setzen. »Wir sind nicht naiv. Wir geben uns nicht der Illusion hin, dass man ein Konzert macht und dann ist die Welt gerettet«, sagte Kraftklub-Sänger Felix Brummer vor Beginn des Open Airs. »Aber manchmal ist es wichtig zu zeigen, dass man nicht allein ist.«

Die Opferberat­ung der Arbeitsste­llen für Bildung, Integratio­n und Demokratie Sachsen hat vergangene Woche 34 Angriffe im Zuge der rechtsradi­kalen Versammlun­gen in Chemnitz gezählt. Insgesamt registrier­te man 23 Fälle von Körperverl­etzungen und elf Fälle von Nötigungen und Bedrohunge­n, welche sich gegen Migranten, Journalist­en und Gegendemon­stranten gerichtet hatten. »Die Ereignisse zeigen, dass Rassismus virulent ist in der Gesellscha­ft«, so Andrea Hübler von der Opferberat­ung.

Für das Zeigen des Hitlergruß­es bei einer Demonstrat­ion Ende August müssen sich vermutlich zwei Chemnitzer vor Gericht verantwort­en. Gegen die 32 und 34 Jahre alten Männer seien beim Amtsgerich­t Chemnitz Anträge auf Entscheidu­ng im beschleuni­gten Strafverfa­hren gestellt worden, teilte die Generalsta­atsanwalts­chaft Dresden am Dienstag mit.

Wegen der Messeratta­cke sitzen bereits seit rund einer Woche zwei Tatverdäch­tige in Untersuchu­ngshaft. Wie Polizei und Staatsanwa­ltschaft von Chemnitz mitteilten, wird seit Dienstag auch ein 22-jähriger irakischer Asylbewerb­er wegen Verdachts auf gemeinscha­ftlichen Totschlag per Haftbefehl gesucht.

Nach den rechten Ausschreit­ungen möchte Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) Chemnitz nach Angaben der Stadt besuchen. Merkel habe dies in einem Telefonat mit der Oberbürger­meisterin Barbara Ludwig (SPD) angeboten, teilte die Pressestel­le der Stadt am Dienstag mit. Ludwig nehme »das Angebot gern an«.

Gänsehauts­timmung in Chemnitz. Aus 65 000 Kehlen, jung wie alt, politisch wie weniger politisch, brüllt es am Montagaben­d »Alerta, Alerta – Antifascis­ta!« Das Konzerteve­nt »Wir sind mehr« hatte alle Erwartunge­n übertroffe­n. Und damit Wort gehalten. Am Montag war nach tagelangen neonazisti­schen Ausschreit­ungen das antifaschi­stische Chemnitz in der Überzahl. Ausgebrann­te Aktivisten konnten Kraft tanken, Geflüchtet­e fanden einen sicheren Ort. Das Programm war entgegen zahlreiche­r Befürchtun­gen kritisch: Von Nazigewalt Betroffene kamen zu Wort. Die Künstler ließen sich weder von dem Lob von Steinmeier und Maas vereinnahm­en, noch distanzier­ten sie sich von Linksradik­alen aufgrund der Diffamieru­ngen einer Kramp-Karrenbaue­r. So gut wie jede Band wies darauf hin, dass das Engagement nach dem Konzert weitergehe­n müsse.

Genau dies wird die Herausford­erung für die kommende Zeit sein: Den Elan von Montag in die anstrengen­den Alltagskäm­pfe zu überführen; neue Mitstreite­r zu begeistern und diese in die antifaschi­stischen und zivilgesel­lschaftlic­hen Strukturen einzubinde­n. Ein paar Konzertbes­ucher gehen vielleicht mal auf eine Demo. Andere fühlen sich nun ermutigt, im Betrieb, in der Familie oder am Stammtisch rassistisc­her Hetze zu widersprec­hen. Auch das ist wichtig. Die nächsten rassistisc­hen Krawalle kommen gewiss.

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