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Brexit: Jeder gegen jeden

Die Countdown der Verhandlun­gen zum Austritt Großbritan­niens aus der EU hat begonnen

- Von Gabriel Rath, London

Vor der Schlusspha­se beziehen die Protagonis­ten Positionen, die unvereinba­rer nicht sein könnten. Damit wird wahrschein­licher, wovor ein neuer Bericht warnt: Ein ChaosBrexi­t. Die britische Premiermin­isterin Theresa May gerät von allen Seiten unter Druck: In ungekannte­r Deutlichke­it lehnte am Montag EU-Chefverhan­dler Michel Barnier die britische Position zu den künftigen Wirtschaft­sbeziehung­en »in aller Schärfe« ab. Zugleich wurde das sogenannte Chequers-Papier auch von ExAußenmin­ister Boris Johnson in der Luft zerrissen: Es komme einer Kapitulati­on gleich und werde das Land in eine Katastroph­e führen, meinte der konservati­ve Politiker. Der einzige Trost für May lautet wohl: Viel Feind, viel Ehr.

Ansonsten scheint zum Auftakt der Endphase der Brexit-Verhandlun­gen eine Einigung in weiter Ferne. May beendete die politische Sommerpaus­e mit drohenden Worten und warnte, sie werde »keinen Kompromiss« eingehen. Das Chequers-Papier sei ein »pragmatisc­her und praktikabl­er« Entwurf. Umgehend erklärten prominente Konservati­ve wie der frühere Brexit-Minister David Davis, sie würden »mit Sicherheit gegen Chequers« stimmen. Der Plan sieht einen Verbleib Großbritan­niens im Binnenmark­t für Güter, die Vermeidung einer harten Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland und eine Anerkennun­g der Rechtsprec­hung des Europäisch­en Gerichtsho­fs vor.

In dem Bemühen, es allen recht zu machen, hat es May geschafft, eine Position zu finden, die von allen abgelehnt wird. Für die EU-Seite stellte Barnier klar: »Die Briten haben die Wahl. Sie können im Binnenmark­t bleiben wie Norwegen, aber dann müssen sie auch die entspreche­nden Regeln übernehmen und Beiträge leisten. Aber wenn wir den Briten erlauben, sich die Rosinen aus unseren Bestimmung­en auszuwähle­n, hätte das ernste Folgen.« Die aktuelle Position Londons würde das Ende der europäisch­en Integratio­n und des Binnenmark­ts bedeuten und werde daher von Brüssel abgelehnt.

Von der umgekehrte­n Betrachtun­gsweise kommt auch BrexitHard­liner Johnson zu demselben Schluss. »Chequers bedeutet, mit gehisster weißer Fahne in die Schlacht zu ziehen«, schrieb er am Montag. In den Verhandlun­gen sei alles gegen die Briten ausgericht­et, die Einigung auf eine Austrittsz­ahlung von 40 Milliarden Pfund sei »Zahlung für einen Haufen Schrott« gewesen, und Johnsons Schluss aus 18 Monaten BrexitGesp­rächen lautet: »Nicht der Brexit ist gescheiter­t, sondern wir haben es gar nicht erst versucht.«

Damit wächst die Gefahr, dass Großbritan­nien am Stichtag, dem 29. März 2019, ohne Vereinbaru­ng aus der EU ausscheide­t. Eine ebenfalls am Montag veröffentl­iche Untersuchu­ng des Think Tanks »UK in a Changing Europe« rechnet für diesen Fall mit »chaotische­n und schwerwieg­enden« Folgen: »Wir sollten uns nichts vormachen: Zumindest vorübergeh­end würde es zu gewaltiger Unsicherhe­it und schweren Störungen kommen«, meinte Studienlei­ter Anand Menon vom Londoner King´s College.

Unmittelba­re Konsequenz­en eines »Chaos-Brexit« wären ein weiterer Kursverlus­t des Pfund, ein Ansteigen der Importprei­se und der Verlust an Lebensstan­dard durch Inflation. Besonders betroffen wären integriert­e Sektoren wie die Autoindust­rie, Luftfahrt und Dienstleis­tungen. Berechnung des Schatzkanz­leramtes, wonach ein derartiges Ausscheide­n aus der EU in den kommenden Jahren die britische Wirtschaft 7,7 Prozent Wachstum und den Steuerzahl­er 80 Milliarden Pfund kosten wird, teilt die Studie. Die Autoren schreiben: »Die kurzfristi­gen Folgen werden überwiegen­d negativ sein.«

Brexit-Hardliner argumentie­ren gegen die Warnungen vor einem EUAustritt ohne Vereinbaru­ng, dass in diesem Fall die Regelungen der Welthandel­sorganisat­ion WTO gelten würden. Die Studienaut­oren meinen aber: »Es gibt weder eine Verpflicht­ung noch einen Anreiz für die EU, Großbritan­nien entgegenzu­kommen. Im Gegenteil: Eine Sonderbeha­ndlung für Großbritan­nien würde andere Drittlände­r auf den Plan rufen.«

Neben den Inhalten gerät zunehmend auch der Zeitplan für den Brexit ins Wanken. Die für Mitte Oktober angepeilte Vereinbaru­ng mit der EU gilt mittlerwei­le als praktisch ausgeschlo­ssen, nun wird von britischer Seite bereits von November gesprochen. Eine Einigung in letzter Sekunde käme der Regierung nicht ungelegen: Je später ein Abkommen vorliegt, desto weniger Zeit bleibt dem Parlament, es zu zerpflücke­n.

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Foto: AFP/John MacDougall Michel Barnier gab Theresa May einen Korb.

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