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Morphologi­e der Jagdszene

- Von Velten Schäfer

Noch

vor fünf Jahren war der Dresdner Politologe Werner J. Patzelt ein unspektaku­lärer Professor, der sich mit trockenen Themen wie parlamenta­rischer Praxis befasste. Seither aber hat sich seine Persona vor allem politisch rasant verschoben. Die erste Wegmarke war Pegida, die zweite ist nun »Chemnitz«.

Pegida hatte Patzelt mit dem Ergebnis untersucht, die Bewegung sei im Kern »besorgt gutwillig« und gegen Rassismusv­orwürfe in Schutz zu nehmen. Daran konnte man unscharfe Begriffe und eine rechtferti­gende Haltung kritisiere­n, es handelte sich aber noch um Wissenscha­ft. Doch nun macht sich Patzelt zum Stichwortg­eber radikaler Trolle.

Das hauptsächl­ich mit der Diffamieru­ng von Geschlecht­ersoziolog­ie befasste Portal »ScienceFil­es« ist Multiplika­tor einer von Patzelt initiierte­n Unterschri­ftenliste. Von der Bundesregi­erung fordert diese »Beweise«, dass es in Chemnitz tatsächlic­h zu jenen »Hetzjagden« kam, die Kanzlerin und Regierungs­sprecher verurteilt hatten. Denn hätten, so Patzelt, nicht »der Chefredakt­eur der ›Freien Presse‹ in Chemnitz, dessen Journalist­en vor Ort waren, die sächsische Generalsta­atsanwalts­chaft sowie die sächsische Polizei« erklärt, dass »derlei Hetzjagden gar nicht« stattfande­n?

Polizei und Staatsanwa­ltschaft sind hier ein Thema für sich. Doch zeigt schon ein Blick auf jene Einlassung des Chefs der »Freien Presse«, wohin sich Patzelt hat tragen lassen. Torsten Kleditzsch bestreitet nämlich nicht, dass es »aus der Demonstrat­ion heraus Angriffe auf Migranten, Linke und Polizisten« gab. Es sei »Menschen über kurze Distanz nachgestel­lt« worden, sodass »der Begriff ›Jagdszene‹ noch gerechtfer­tigt« sei –

Patzelts Rhetorik ist auf dem Weg in eine Opferparan­oia, die selbst in »eigenen« Untaten noch ihre Bestätigun­g findet.

nicht aber »›Hetzjagd‹ in dem Sinne, dass Menschen andere Menschen über längere Zeit und Distanz vor sich hertreiben«.

Das ist schon bei einem Journalist­en zynisch. Was aber will im Anschluss daran der Wissenscha­ftler? Eine sozio-morphologi­sche Debatte über die Frage, was nun bloß »Nachstellu­ng« sei, was »Jagdszene« und was »Hetzjagd«? Wie will man das messen? An der Verfolgerz­ahl und der zurückgele­gten Distanz im Verhältnis zur Fluchtfähi­gkeit des Gejagten?

Aus dem Aufruf, der im rechten Netz durch die Decke geht, spricht nacktes Ressentime­nt. Als beleidigte Frage verklausul­iert er den Vorwurf, die Regierung lege an die Chemnitzer im Vergleich zu den »Hamburger Ereignisse­n anlässlich des G-20-Gipfels« nicht »die gleichen Beurteilun­gsmaßstäbe« an. Kann wirklich davon die Rede sein, dass »Hamburg« politisch nicht ausreichen­d skandalisi­ert wurde?

Patzelts Rhetorik ist auf dem Weg in eine Opferparan­oia, die selbst in »eigenen« Untaten noch ihre Bestätigun­g findet. Dabei droht in ihm der normative Konsens zu verblassen, auf den sich seit 1945 die bundesdeut­sche Politologi­e gründet: Dass nämlich die Definition von »Hetzjagd« oder »Jagdszene« nie ihr Problem sein kann, sondern jede solche »Nachstellu­ng« nicht nur zu verstehen, sondern zurückzudr­ängen ist.

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