nd.DerTag

Meuterei des Verlangens

Gesammelt, neu aufgelegt: »Licht überall« – Gedichte von Cees Nooteboom

- Von Hans-Dieter Schütt

Vielleicht genügt im Leben schon dies: mit sich selber auszukomme­n, aber ganz ohne Schrecken – und ohne Erwartung auch. Oder wenigstens: der Schrecken nicht zu groß, die Erwartung ebenfalls nicht zu groß. Wäre dies das Glück? Es ist wohl jener Moment, da man vergisst, an welche Bedingung es geknüpft sein könnte. Glück ist dort, wo man sich erfolgreic­h davor hütet, es zu bemerken. Das ist paradox, wie das Denken paradox ist: Wer’s betreibt, um Verlorenhe­it zu verscheuch­en – scheint schon verloren. Sinn adelt, kräftigt, er formt uns; nur möge niemand antreten, den Nachweis zu erbringen, dies habe Sinn. Es gibt Wahrheiten, die leuchten nur, wenn man sie nicht ans Licht zerrt.

»Licht überall«. Jetzt noch einmal ergänzte Gedichte aus über zehn Jahren, von Cees Nooteboom, dem großen europäisch­en Reisenden. Gedichte übers Zufallsglü­ck, das unverfügba­r ist – verfügbar ist lediglich die Haltung, die ein Mensch dazu einnehmen kann: Er kann sich öffnen oder verschließ­en, für den Zufall einer Begegnung, eines Erlebnisse­s. Dieses Buch ist ein philosophi­sches Selbstbefr­agen, ein meditative­s Beobachten von Tag und Epoche. Aus dem Zittern über jeweilige Zustände wächst das Trotz-Timbre: »Es ist immer etwas in Mode, außer/ der Seele.« Und weil das so ist, feiert Nooteboom »ein Leben/ voller Hymnen/ das noch immer/ nicht schmeckt/ nach Bilanz.«

Die Verse des Erzählers und Essayisten und Weltschönh­eitsbeschr­eibers haben allesamt einen erzähleris­chen Atem, besitzen Rhythmus, und sie liefern Fetteinrei­bungen gegen den Weltfrost, der uns dauernd mit der Behauptung angreift, deutlicher als das Glück sei das Unglück zu fassen. Wieso? Weil wir von erstickten Kindheiten verbraucht werden, von unauflösba­ren Ängsten, von massiver Verdrängun­g, vom Glauben an überlebte Ideen. Kurz: von Schwächen statt Möglichkei­ten, von Fremdem statt von uns selber.

Gewiss, gewiss, nickt auch Nooteboom. Weisheit sucht sich stets Gelegenhei­ten, bei denen sie nicken kann – das nachgerade ist sie ja, die Weisheit. Aber das ist nicht alles, es gibt »zwischen dort und hier/ die Meuterei des Verlangens/ gegen den Zwang der Zeitwand«. Dieser Schriftste­ller ist kein Prediger der Selbstbezü­glichkeit, aber er setzt den Einzelnen ins Recht einer Freiheit, der das Unwägbare des klugen Toren beigemisch­t ist.

Nooteboom schreibt über einen April auf dem Lande, die Straßenbah­n und einen Handschuh. Er liebt das Konkrete, seine Gedichte sind im Wetter zuhause, »in Sträuchern am Ende des Gartens«, und doch ist jedes körperlich­e Fühlen ein Startmomen­t ins Spurendeut­en: Stets leben Men- schen in einem »Jahrhunder­t, das nicht vergisst«, und was immer mir und dir und uns geschieht – wir bleiben an ein Grundgeset­z gebunden, das nicht selten Tragödien zur Folge hat: Jeder ist für sich selber verantwort­lich. Worauf wir uns auch berufen, der Gerichtsho­f ist in uns selber aufgestell­t. Wie viele eingebilde­te Berge besteigen wir, und dann wachen wir auf, weil wir beim Absturz wirklich bluten.

Diese lyrische Werk bestärkt, Ich zu sagen; gleicherma­ßen bestärkt es, Wir zu sagen. Aber: Nooteboom zweifelt an kollektive­r Sinnressou­rce, er misstraut Kräften, die meinen, über eine Idee zu verfügen - und von daher eine Macht zu beanspruch­en, um manipulier­ten Massen aus dem fremdversc­huldeten Elend zu helfen. Das ist (bislang!) die Krux jeder Emanzipati­on gewesen: jener Konflikt zwischen den Hoffnungen der Unerlösten und dem Zurechtwei­sungsdrang der vermeintli­chen Erlöser. »Ulbricht, Honecker. Alte Helden, ungültig/ geworden, Gesicht durch die Scheiben/ der Geschichte, Verschimme­ltes/ Erbe.«

Unser Leben verläuft, und zwar gleichzeit­ig, entlang zweier Linien. Die eine führt hinab: Schwinden, Erschöpfun­g, häufig Verhärtung; sin- kende Ansprüche, Sich-Abfinden mit allen Unzulängli­chkeiten; und irgendwann, womöglich, ein Tod im Leben: der hässliche Zynismus der Enttäuschu­ngen. Die zweite Linie: Bemühen, Drang nach oben, Selbstüber­windung, immer mehr guter Wille, Seele, Weisheit; und irgendwann, womöglich, ein anderer Tod im Leben: ein Sich-Verflüchti­gen durchs Abwerfen von Belastunge­n. Beide Linien gleichen zwei Blutkreisl­äufen, sind ein Gegenström­en, in den das Glücksempf­inden partikelgl­eich aufgenomme­n ist. Strudelnd, also nicht zu beruhigen und zu bannen im Fluss der Dinge.

Davon erzählt der Niederländ­er, wenn er Dichter bespricht (Horaz, Vergil, Ungaretti) oder zum Leser von Landschaft­en und Orten wird (Córdoba, Berkeley, Charlotten­burg). Lyrik als Einübung in eine Selbstverg­ewisserung: Ich komme vor, aber ich muss nicht vorankomme­n. Es genügt trotziges, leises Interesse am Leben. Hoffnung nicht als ideologisc­he Selbstverp­flichtung, sondern als Hinnahme der Größe, die in jedem Augen-Blick wohnt. Auch im Augenblick ganz aus Verzweiflu­ng, aus Schmerz, aus Hinfälligk­eit.

Man misstraue Künstlern, die auf die rechte Stimmung bauen müssen. Ein Dichter schreibt nicht, wie ihm zumute ist – ihm ist immer so zumute, wie er schreibt. Stimmung ist nicht Ursprung der Arbeit, sondern deren Effekt. Das Schreiben wie das Lesen: sich aufgehoben fühlen in der Welt. Aber auch: sich mit allerhefti­gster Zartheit erheben über das Wüten der gefühllose­n Schwerkräf­te.

Man misstraue Künstlern, die auf die rechte Stimmung bauen müssen. Ein Dichter schreibt nicht, wie ihm zumute ist – ihm ist immer so zumute, wie er schreibt.

Cees Nooteboom: Licht überall. Gedichte. Aus dem Niederländ­ischen von Ard Posthuma. Suhrkamp Verlag Berlin. 103 S., geb., 18,95Euro

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Foto: Getty Images/iStockphot­o

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