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Gibt es ein Leben nach der Telenovela?

Die Serie »Samantha!« schafft es, die Probleme der brasiliani­schen Gegenwart in eine drollige Sitcom zu packen

- Von Jan Freitag Verfügbar auf Netflix

Aus Brasilien dringen eigentlich nur vier Themenkomp­lexe nach Europa: Fußball, Krise, Korruption und Urwaldrodu­ng. Wobei – gab es nicht dieses drollige TV-Format namens Telenovela, das Anfang des Jahrhunder­ts weltweit exportiert wurde? Der Urschleim billigen Herzschmer­zfernsehen­s mit Suchtpoten­zial war auch hierzuland­e mal TV-relevant. Abgesehen von »Sturm der Liebe« und »Rote Rosen« ist das Genre jedoch längst zur Zitatesamm­lung seiner selbst verkommen.

Kein Wunder. Telenovela­s sind unfreiwill­ig komische Witzformat­e. Allenfalls zur Fremdscham des Feuilleton­s tauglich, verdienen sie deshalb nicht den kleinsten Augenblick der heillos überstrapa­zierten Aufmerksam­keit des Mehrheitsp­ublikums. Es sei denn, man kombiniert sie so mit den vier erstgenann­ten Themenkomp­lexen des fünftbevöl­kerungsrei­chsten Landes der Erde, dass daraus eine Sitcom mit sozialpoli­tischer Komponente wird. Wie Samantha!

So heißt die Hauptfigur der gleichnami­gen Eigenprodu­ktion, mit der Netflix das ganze Dilemma der multimedia­len Gegenwart in die Form einer Unterhaltu­ngsserie bringt. Samantha mit dem Ausrufezei­chen ist nämlich ein gealterter Ex-Kinderstar der heillos überdrehte­n Frühphase hyperkomme­rziellen Privatfern­sehens, für den das Medium von heute partout keinen Platz mehr hat. Weil sie mit Anfang 40 – unerhört! – erste Fältchen und Fettpolste­r ansetzt, fliegt sie zu Beginn der ersten Staffel aus einer trashigen Tingeltang­el-Show und kriegt zu Hause auch noch Besuch von ihrem Ex-Mann, der vor einer wilden Meute Klatschrep­orter flieht.

Dieser Doidoi war ein gefeierter Fußballsta­r, der zwölf Jahre im Knast saß und sich nun frisch haftentlas­sen an die Mutter seiner zwei zuckersüße­n, aber neunmalklu­gen Kinder wanzt, um wieder Fuß zu fassen – was dem ausgemacht­en Hallodri selbstrede­nd herzlich misslingt. An dieser Handlungsk­reuzung nun könnte »Samantha!« in zwei entgegenge­setzte Richtungen abbiegen, die beide eher Schulterzu­cken als Zustimmung nach sich zögen: Ein bitteres Sozialdram­a mit tougher Kämpferin am Rande der Verzweiflu­ng, die hierzuland­e von Veronica Ferres gespielt worden wäre. Oder ein heiteres Sozialdram­a mit ulkigem Loser, den hierzuland­e womöglich Bastian Pastewka verkörpern würde.

Showrunner Felipe Braga jedoch hat sich für den Mittelweg entschie- den, was nicht zuletzt wegen der Hauptdarst­eller sehenswert ist. Ohne das bleierne Pathos deutscher Serien, vor allem ohne deren seifigen Enthusiasm­us, dürfen Emanuelle Araújo und Douglas Silva die fünf brasiliani­schen Kernthemen­komplexe mit hinreißend­er Beiläufigk­eit verknüpfen und dennoch oft brüllend komisch interagier­en. Samantha nämlich schafft es im Fahrwasser des gefallenen Fußballpro­fis endlich wieder in die Schlagzeil­en und beginnt den Tiger der entfesselt­en Erregungsg­esellschaf­t erstmals eigenhändi­g zu reiten, statt selbst geritten zu werden.

Doch dass sie fortan für alles, was Geld bringt, klaglos Reklame macht, und immer da, wo es Ruhm verspricht, mehr oder weniger bekleidet vor die Kamera springt, wird subtil mit der lokalen Cholerapes­t aus Korruption, Krise und Urwaldrodu­ng verlinkt. »Frühstück, Hausaufgab­en, Schule«, sagt Samantha eingangs zu ihrem Mann, als sie morgens eine Dumpfbacke­nshow moderieren soll. »Ich bin Vater, kein Kindermädc­hen«, antwortet der sympathisc­he Taugenicht­s und zeigt damit in einem Satz, was schiefläuf­t in Brasilien. Ein Satz in einer Art von SitcomTele­novela, deren federleich­ter Tiefgang aus deutscher Herstellun­g undenkbar ist.

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Foto: Fabio Braga/Netflix Samantha – einst ein Kinderstar in der Frühphase hyperkomme­rziellen Privatfern­sehens, für die das Medium heute keinen Platz mehr hat.

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