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Die brutale Realität der Psychiatri­e

Außerparla­mentarisch­e Gruppe kritisiert die Forensik des Klinikverb­undes Bremen als menschenun­würdig

- Von Peter Nowak

Im Mai 2017 starb ein 31-Jähriger in einer psychiatri­schen Einrichtun­g in Bremen. Laut einer Gruppe Aktivist*innen sind die Zustände für Patient*innen weiter unhaltbar. »Wir behandeln Menschen, die aufgrund einer psychische­n Erkrankung in erhebliche­m Maße straffälli­g geworden sind. Durch die Behandlung sollen sie wieder in die Lage versetzt werden, zukünftig straffrei zu leben.« Mit diesen Worten stellt der Klinikverb­und Bremen seine Dienstleis­tungen auf dem Gebiet der Forensik vor. Klingt auf den ersten Blick nicht weiter schlimm. Zivilgesel­lschaftlic­he Gruppen fordern jedoch die Schließung der Forensik. Sie kritisiere­n, die dortigen Maßnahmen verletzten die Menschenre­chte der Patient*innen.

Mitte August hatte die Bremer Gesundheit­sdeputatio­n, eine Arbeitsgru­ppe mit Vertretern von Senat und Bürgerscha­ft, zu einer Sondersitz­ung eingeladen. Ziel war, über den Stand der 2013 von der Bremer Bürgerscha­ft beschlosse­nen Psychiatri­e-Reform zu debattiere­n. Kritiker*innen meldeten sich auf dem Bremer Marktplatz während des Treffens lautstark zu Wort. »Wir haben den krassen Widerspruc­h zwischen dem von Politik- und Medizinbet­rieb gezeichnet­en Ideal-Bild einer angeblich menschenfr­eundlichen, fortschrit­tlichen Psychiatri­e in Bremen und der brutalen Realität, die Psychiatri­sierte tatsächlic­h erleben, deutlich gemacht«, erklärte Julia Benz von der Psychiatri­schen Gruppe Bremen gegenüber »nd«.

Die Arbeit der außerparla­mentarisch­en Initiative sorgt in Bremen für Aufsehen bei Medien und Politik. »Gegründet hatten wir uns, nach dem eine uns bekannte Person in die Fänge der Bremer Wegschließ-Maschineri­e geriet«, sagte Benz. Was diese Person wie auch die Aktivist*innen selbst erfuhren hätten, sei der Motor des Engagement­s gewesen. Anfang 2017 berichtete­n verschiede­ne Medien über Klagen von Patient*innen der Forensik. Ihre Vorwürfe: Man habe sie tagelang an ihre Betten fixiert und zwangmedik­amentiert, anstatt geeignete Therapiema­ßnahmen durchzufüh­ren.

Die Berichte über entwürdige­nde Bedingunge­n auf der Akutaufnah­mestation des Klinikums Bremen-Ost führten zu Nachfragen, auch der Bürgerscha­ftsfraktio­nen von LINKEN, SPD und den Grünen. Nachdem im Mai 2017 ein 31-Jähriger in der Forensik im Klinikum-Ost an Herzstills­tand starb, wuchs die Kritik an den Zuständen noch weiter.

Derzeit ist das Thema jedoch wieder aus den Schlagzeil­en. »Es gab weder personelle Konsequenz­en, noch ermittelt Polizei und Staatsanwa­ltschaft objektiv«, sagte Benz. Auch der Umgang mit den Patient*innen sei kein anderer als vorher. Daher setzen die Aktivistin und ihre Mitstreite­r*innen statt auf die die Skandalisi­erung von spektakulä­ren Einzelfäll­en auf die bundes- weite Kooperatio­n von psychiatri­ekritische­n Initiative­n, wie der Irrenoffen­sive und dem Bundesverb­and der Psychiatri­eerfahrene­n.

Die Gruppe knüpft damit an ein lange weitgehend vergessene­s Arbeitsfel­d des gesellscha­ftlichen Aufbruchs von 1968 an. Theoretisc­he Kritik an der Psychiatri­e und die praktische Organisier­ung von Psychiatri­ebetroffen­en waren ein wesentlich­er Bestand von diesem gewesen. Der Regisseur Gerd Kroske hatte jüngst mit seinem Film »Der SPK-Komplex« an diese Geschichte am Beispiel des Sozialisti­schen Patient*innenkolle­ktivs aus Heidelberg erinnert.

Am Ende des Film betont Kroske, dass eine psychiatri­ekritische Bewegung heute kaum vorhanden, aber noch immer nötig wäre. Dass dieser Befund für Bremen nicht zutrifft, erklärt Julia Benz mit regionalen Gründen. »Bremen bricht einige Rekorde in Bezug auf Krankenhau­sbetten pro Einwohner und bei Zwangseinw­eisungen.« Doch sie verweist darauf, dass auch bundesweit die Tendenz zunimmt, abweichend­es Verhalten zu psychiatri­sieren. Der Fall von Gustl Mollath sei nur eines von vielen Beispiele. Der Nürnberger wurde in Bayern von Gerichten seit 2006 mehrmals in die Psychiatri­e eingewiese­n. Erst nach acht Jahren entließ man ihn als Justizopfe­r nach einem Wiederaufn­ahmeverfah­ren.

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Foto: dpa/Hans-Jürgen Wiedl Ein Patient wird am Bett fixiert.

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