Aufgestanden
Sammlungsbewegung ist verkündet und sieht 100 000 Unterstützer hinter sich
Berlin. Die mit Spannung wie Argwohn erwartete Sammlungsbewegung »Aufstehen« ist seit Dienstag offiziell. Mit vier ihrer insgesamt über 80 Mitstreiter stellte Sahra Wagenknecht in Berlin die Vorhaben der Sammlungsbewegung vor, die in einem Gründungsaufruf zusammengefasst sind. Deutschland verändere sich in einer Richtung, die viele Menschen nicht wollten, so die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag. Die jüngsten Ereignisse in Chemnitz hätten gezeigt, dass es »so nicht weitergehen kann«. Hauptgrund für die Zukunftsängste der Menschen sei die Krise des Sozialstaates, heißt es im Gründungsaufruf. Die Flüchtlingsentwicklung habe zu zusätzlicher Verunsicherung geführt. »Wir lehnen jede Art von Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhass ab. Gerade deshalb halten wir die Art und Weise, wie die Regierung Merkel mit den Herausforderungen der Zuwanderung umgeht, für unverantwortlich.«
Der Dramaturg Bernd Stegemann erklärte, man wolle den Menschen wieder zuhören, während der einstige Grünen-Vorsitzende Ludger Volmer meinte, man wolle den Menschen ermöglichen, ihre Interessen zu artikulieren. Die Sammlungsbewegung zielt auf Regierungsmehrheiten, in denen sich die Mehrheit der Menschen und ihre Interessen wiederfinden. Die Bewegung setzt auf den politischen Druck, den sie durch ihre Existenz sowie durch Aktionen ihrer Unterstützer auf die Parteien ausüben wollen. Der Kommunikationsexperte Hans Albers beklagte die politische Praxis, dass »nur noch gesendet« werde. Die Bewegung wolle den Menschen dagegen die Möglichkeit geben, sich Gehör zu verschaffen. Über 100 000 Menschen haben sich auf der Plattform angemeldet.
Die Linkspartei gab erneut ihre distanzierte Haltung zu Protokoll. »Aufstehen« sei ein Projekt von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine, kein Projekt der Partei, so Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler. Grünen-Parteichef Robert Habeck warf »Aufstehen« einen Mangel an Inhalten vor. Und SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sprach von einem Machtkampf innerhalb der Linkspartei. uka
Über 100 000 Unterstützer zeigt die Sammlungsbewegung »Aufstehen« an. Sie sollen jetzt zur politischen Macht werden. Doch es gibt auch Widerstände. Rappelvoll ist der Saal der Bundespressekonferenz am Dienstagvormittag in Berlin. Interesse ist der Sammlungsbewegung, die an diesem Tag offiziell ins Leben gerufen wird, jedenfalls sicher. Das zeigt sich auch am Zulauf für die Bewegung selbst. 101 741 Unterstützer seien zur Stunde online verzeichnet, teilt Sahra Wagenknecht mit. Das überwältigende Echo sei auch der Grund gewesen, warum man sich entschlossen habe, schon einen Monat vor der eigentlichen Gründung online zu gehen. Ein Teil der Aufmerksamkeit verdankt sich ihr, der Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei im Bundestag, die gemeinsam mit Oskar Lafontaine als Urheberin der Idee gilt, auch wenn auch andere mitmischten.
Bernd Stegemann beispielsweise, der neben Wagenknecht sitzt. Der Theatermann will erreichen, dass die Widersprüche in der Gesellschaft so verhandelt werden, dass normale Menschen sich davon angesprochen fühlen. Derzeit herrschten in der Politik »Themenvampirismus und Gefühlsanästhesie« vor, sagt der Autor und Dramaturg und beschreibt damit die von ihm beobachtete Vereinnahmung »normaler Menschen« durch die Politik, die große Sprüche klopft und nicht hält, was sie verspricht.
Die Motive der Unterstützer auf dem Podium klingen ähnlich. Simone Lange, Oberbürgermeisterin von Flensburg, will in der Sammlungsbewegung »Aufstehen« das Verbindende suchen zwischen ihrer SPD, den Grünen und der Linkspartei, weil sie die Freiheit in dieser Gesellschaft bedroht sieht. Die ist ihr viel wert, betont sie unter Hinweis auf ihre ersten Lebensjahre in der DDR. Lange hat in der SPD den Aufstand geprobt, indem sie auf dem letzten Parteitag bei der Wahl der Vorsitzenden gegen Andrea Nahles antrat. Sie verlor, aber achtbar und jedenfalls mit dem Ergebnis, dass sie es weiter versucht.
Das Verbindende und das Trennende – in den Debatten über die Sammlungsbewegung ist viel davon durcheinander geraten. In den Parteien selbst gibt es neben viel Unterstützung, auf die Sahra Wagenknecht ausdrücklich hinweist, vor allem aus Führungskreisen viel Widerstand. Auch am Dienstag hallte Wagenknecht aus der Linkspartei Ablehnung entgegen. Die Parteiführungen zeigen immerhin eines an: Der Druck, den die Sammlungsbewegung erzeugen will, ist kein Hirngespinst. Besonders empfindlich reagiert die Linkspartei, weil sie sich zu Unrecht unter Druck gesetzt fühlt. Doch Gefühle sind keine Basis von Politik. Wagenknecht kann darauf verweisen, dass es schlechterdings die Programmatik der Linkspartei selbst ist, die sie verfolgt.
Wenn da nicht die Flüchtlingsfrage wäre. Wie weit sich diese verselbstständigt hat, zeigt der Vorwurf des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert, der am gleichen Tag gegenüber dpa den Vorwurf erhob, die Sammlungsbewegung umschiffe den Konflikt »zwischen Verteilungspolitik und Identitätspolitik«. Außerdem fühlt Kühnert sich vereinnahmt, weil er als Angemeldeter zu den Hunderttausend gezählt werde, ohne dass er dazugehören will. Inhaltlich geht es um das angebliche Gegeneinander-Ausspielen von Flüchtlingen und deutschen sozial Benachteiligten. Doch die Gründer von »Aufstehen« verwahren sich gegen diesen Vorwurf wie gegen den Vorwurf des Rassismus, der damit verknüpft wird. Auch dem Vorwurf, ihren Parteien zu schaden, widersprechen sie. Sie wolle ihre Partei stärken, beteuert Simone Lange. Aber sie stellt sich dabei eine SPD vor, die Mehrheiten dank ihrer Politik für sich gewinnt.
»Kern ist die soziale Frage!« Wagenknecht sieht in den Vorwürfen Ursache und Wirkung vertauscht. Ansteigende Mieten und schlechte Löhne habe es wie verwahrloste Schulen schon vor 2015 gegeben, als die große Zahl von Flüchtlingen nach Deutschland kam. Aber diese habe die Lage noch verschärft.
Das festzustellen, ist kein Rassismus. Was ist es aber, dies zu bestreiten? Es gebe die verhängnisvolle Tendenz, das allgegenwärtige Oben-Unten-Problem in ein Innen-Außen- Problem umzudeuten, sagt Ludger Volmer, einst Mitbegründer und Vorsitzender der Grünen. Heute wirft er seiner Partei vor, den pazifistischen Gründungskonsens ebenso verlassen zu haben wie den, dass die ökologische Frage nicht zu lösen sei ohne die soziale Frage. Theatermann Bernd Stegemann: Rechts gegen Links stelle sich heute vielfach als Konflikt zwischen Ressentiment und Moral dar. Darin könne es keine Lösung geben.
Im Gründungsaufruf der 80 Unterstützer, deren Namen man auf der Seite »aufstehen.de« findet, heißt es: »Es gibt in der Bevölkerung Mehrheiten für eine neue Politik: für Abrüstung und Frieden, für höhere Löhne, bessere Renten, gerechtere Steuern und mehr Sicherheit ..., aber es gibt keine mehrheitsfähige Parteienkoalition, die für eine solche Politik steht.« In anderen Ländern seien aus diesem Widerspruch »neue Bewegungen entstanden, die die Politik verändert haben«. Wagenknecht schildert die Überzeugung der 80 Prominenten, die hinter ihr stehen: »Wenn wir erfolgreich sind, werden die Parteien reagieren.«
Es geht nicht nur um Widersprüche in der Gesellschaft, die Bewegung selbst ist Spiegel dieser Widersprüche. Auch wenn Ludger Volmer die Politik seiner Partei heftig kritisiert, trägt er das Stigma des einstigen Staatsministers, der seinem Außenminister Joschka Fischer wie die gesamte Partei in rot-grüner Regierungszeit in die Kriege in Jugoslawi- en und Afghanistan folgte. Heute analysiert er wieder scharf, die »menschenrechtsgestützte Außenpolitik« sei in Wahrheit eine »moralgestützte Sanktions- und Aggressionspolitik«. Doch Loyalität gehöre zum Regierungsgeschäft, sagt er in der Bundespressekonferenz. Sahra Wagenknecht verweist an dieser Stelle auf den Gründungsaufruf der Sammlungsbewegung, in dem eine neue Friedenspolitik als erste Forderung steht. Die Bundeswehr wird darin »als Verteidigungsarmee in eine Europäische Sicherheitsgemeinschaft« eingebunden, die »Ost und West umfasst«. Wagenknecht findet es müßig, sich gegenseitig vorzuwerfen, was man einst falsch gemacht habe. Sonst könne sie ja in Zukunft mit niemandem mehr von den Grünen zusammenarbeiten, die in den letzten Jahren eine »sehr andere« Politik als die Linkspartei vertreten hätten.
Tags zuvor erst hatte die Vorsitzende der Grünen, Annalena Baerbock, öffentlich mitgeteilt, die Initiatoren des »Aufstehen«-Bündnisses hätten in den letzten Tagen der Auseinandersetzungen mit Rechts in Chemnitz »leider nicht auf der Straße« gestanden. »Und deswegen ist das auch nicht mein Bündnis.« Simone Lange zeigt sich persönlich angegriffen. Als Oberbürgermeisterin habe sie eine Seebrücke-Demonstration zur Unterstützung ziviler Seenotretter unterstützt und begleitet. Solle sie Baerbock jetzt auch vorwerfen, dass sie dort nicht anwesend war?
»Es gibt in der Bevölkerung Mehrheiten für eine neue Politik: für Abrüstung und Frieden, für höhere Löhne, bessere Renten, gerechtere Steuern und mehr Sicherheit, aber es gibt keine mehrheitsfähige Parteienkoalition, die für eine solche Politik steht.
Aus dem Gründungsaufruf