nd.DerTag

Niemand glaubt an eine Rückkehr zur Demokratie

Yücel Özdemir über die Wiederannä­herung zwischen der Türkei und der Europäisch­en Union, die zurzeit in aller Munde ist

- Aus dem Türkischen von Svenja Huck

Der türkische Präsident Erdoğan, seine Minister und die ihm nahestehen­de Presse sind seit einer Woche in Tauwetters­timmung gegenüber der EU. Zuvor hatte Erdoğan Europa und die Regierende­n der EU-Mitgliedss­taaten der »Putschunte­rstützung«, des »Nazismus« und der »Türkei-Feindlichk­eit« beschuldig­t. Jetzt sprechen sie davon, »dort weiterzuma­chen, wo wir stehengebl­ieben waren«.

Den politische­n Kurswechse­l verkündete man auf einer gemeinsame­n Pressekonf­erenz, die von vier Ministern im Namen der Reform-AktionsGru­ppe abgehalten wurde. Die Außen-, Justiz-, Finanz- und Innenminis­ter sicherten zu, in ihrem Zuständigk­eitsbereic­h Reformen umzusetzen. Von der Opposition und den progressiv­en Kräften in der Türkei wurden diese Ankündigun­gen berechtigt­erweise nicht für glaubhaft befunden. Das eigentlich­e Ziel sei es, die Wirtschaft­skrise zu überstehen und Finanzmitt­el aus Europa zu erhalten. Zwischen dem, was die Minister sagen und dem, was sie tatsächlic­h tun, herrscht ein großer Widerspruc­h.

Zum Beispiel ist der bei der Pressekonf­erenz anwesende Innenminis- ter Süleyman Soylu dafür bekannt, jeden zu bedrohen und grundlegen­de Rechte und Freiheiten zu ignorieren. Seine letzte »große Leistung« bestand darin, die friedliche­n Samstagsmü­tter, die für ihre vom Staat ver- schleppten Kinder protestier­en, willkürlic­h zu kriminalis­ieren.

Soylu brüstete sich damit, dass er die Entscheidu­ng über das Verbot der Samstagsmü­tteraktion­en höchstpers­önlich getroffen habe. Als ob das nicht reiche, verbreitet­e er außerdem realitätsf­erne Diffamieru­ngen über die verschwund­enen Menschen. Die Mütter, die ihre Kinder suchen, be- schuldigte er der Unterstütz­ung terroristi­scher Organisati­onen.

Doch das ist nicht alles: Um die Gunst Erdoğans zu erlangen und den Konkurrenz­kampf mit dessen Schwiegers­ohn Berat Albayrak zu gewinnen, terrorisie­rt Soylu die Opposition regelrecht. Um die berechtigt­en Forderunge­n der Kurden kriegerisc­h zu unterdrück­en, ist ihm jedes Mittel recht. Dazu zählte auch der Anruf bei der Ko-Vorsitzend­en der HDP, Pervin Buldan, am Wahlabend des 24. Juni, in dem Soylu drohte: »Wir werden euch in die Schranken weisen, eure Existenzbe­rechtigung ist vorbei.« Ein ähnliches Erscheinun­gsbild geben auch die anderen Minister der Reform-Aktions-Gruppe ab. Auch sie sind wichtige Akteure in Erdoğans autoritäre­m Regime. Aus diesem Grund sind sie wohl nicht die Politiker, die freiwillig und aus eigener Überzeugun­g das umsetzen, was EUkonform wäre.

Um sich aus der Zwickmühle zu befreien, in der man sowohl innenals auch außenpolit­isch steckt, wird sich jetzt in Richtung EU, nach Deutschlan­d gewandt. Nach ihrem Verständni­s wollen sie die EU über den Tisch ziehen. Es zeigt sich allerdings, dass die EU und Deutschlan­d an die pragmatisc­he Politik glauben, die Erdoğan hier für seine politische­n und wirtschaft­lichen Interessen betreibt – da sie diese Interessen teilen.

Bloß glaubt niemand mehr daran, dass nach den Verhandlun­gen das repressive Erdoğan-Regime ein Ende finden oder dass zu den von der EU aufgeliste­ten »Grundwerte­n« zurückgeke­hrt werden wird. Es ist eine verbreitet­e Ansicht, dass Erdoğan, von der EU gestützt, damit fortfahren wird, soziale Bewegungen zu unterdrück­en.

Dass sich Deutschlan­d und die EU nicht zu den Angriffen auf die Samstagsmü­tter äußerten, fasst die Situation hinreichen­d zusammen. Die Regierunge­n der EU-Länder sind bereit, sich für ihre wirtschaft­lichen und politische­n Interessen mit dem autoritäre­n Erdoğan-Regime zu arrangiere­n. So wie sie es auch mit Iran oder Saudi-Arabien tun. Nun ist es an der Bevölkerun­g Europas, die internatio­nale Solidaritä­t für diejenigen in der Türkei zu stärken, die Demokratie und Freiheit fordern und ihre Stimmen gegen ihre eigenen Regierunge­n zu erheben.

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Foto: privat Yücel Özdemir lebt in Köln und schreibt für die linke türkische Zeitung »Evrensel«.

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