nd.DerTag

Die andere Ukraine

Gibt es einen realen gesellscha­ftlichen Rückhalt für die Volksrepub­liken Donezk und Lugansk?

- Von Felix Jaitner

Die Volksrepub­liken Donezk und Lugansk sind eine Reaktion auf die gescheiter­te kapitalist­ische Transforma­tion der Ukraine. Eine Demokratis­ierung gesellscha­ftlicher Verhältnis­se bedeutet das nicht. Die Ermordung des Ministerpr­äsidenten der Volksrepub­lik Donezk Alexander Sachartsch­enko rückt den Krieg in der Ostukraine zurück in das Bewusstsei­n der westlichen Öffentlich­keit. Trotz der Minsker Friedensve­rhandlunge­n und über 10 000 Todesopfer­n ist keine Lösung in Sicht. Das liegt nicht nur an der Blockadeha­ltung der Konfliktpa­rteien, sondern auch an deren mangelnder Bereitscha­ft, die Ursachen der gewaltsame­n Eskalation genauer zur Kenntnis zu nehmen: die ökonomisch­e Spaltung der Ukraine.

Die Ökonomie des Donbass ist traditione­ll von der Schwerindu­strie geprägt und auf den russischen Markt ausgericht­et. Unter Präsident Leonid Kutschma gelang es Oligarchen wie Rinat Achmetow, Wiktor Pintschuk oder Ihor Kolomojski­j in den 1990er Jahren, sich große Kohle-, Metallurgi­e- und Stahlunter­nehmen oft auf skrupellos­e Art und Weise anzueignen. Unterstütz­ung erhielten sie dabei von der lokalen Staatsbüro­kratie.

Das Bündnis zwischen ostukraini­scher Bürokratie und der Oligarchie fand ihren Ausdruck in der Gründung der Partei der Regionen und ihrem langjährig­en Vorsitzend­en Viktor Janukowits­ch. Die Partei agierte als direkte politische Interessen­vertreteri­n ihrer Großspende­r und sicherte den ranghohen Parteimitg­liedern und den mit ihr verbundene­n Oligarchen den Zugriff auf staatliche Gelder.

Eine weitere Besonderhe­it des Donbass ist die regionale Identität der Region, die stark durch die Kohleindus­trie, die geografisc­he Nähe zu Russland und einen positivere­n Bezug zur sowjetisch­en Vergangenh­eit als im Rest des Landes geprägt ist. Der auch in Deutschlan­d bekannte ukrainisch­e Schriftste­ller und MajdanSymp­athisant Jurij Andrjuchow­itsch bezeichnet­e noch im Jahr 2010, vier Jahre vor dem Beginn des Konfliktes, die Bewohner der Krim und des Donbass als »politisch andere Nation« und plädierte dafür, die beiden Gebiete von der Ukraine abzuspalte­n.

Zum Jahreswech­sel 2013/2014 wurde die gesamte Ukraine von einer Protestwel­le erfasst, die sich gegen die umfassende Korruption, die Oligarchen­herrschaft und die zunehmende soziale Ungleichhe­it richteten. Die soziale Bilanz der kapitalist­ischen Transforma­tion in der Ukraine ist katastroph­al. Im Jahr 2008 lag das Bruttosozi­alprodukt nur bei knapp 60 Prozent des Jahres 1989. Im Zuge des russischen Wirtschaft­sbooms in den 2000er Jahren erwies sich die Ausrichtun­g auf den russischen Markt als lukrativ und Donezk entwickelt­e sich zu einer modernen Metropole. Gleichzeit­ig spitzten sich die sozialen Gegensätze weiter zu. Die angrenzend­e Region Lugansk war vor dem Beginn des Konfliktes die zweitärmst­e Region der Ukraine.

Die Proteste auf dem Maidan verschoben die Koordinate­n zuungunste­n der ostukraini­schen Oligarchen. Führende Mitglieder der Partei der Regionen und die Familie Janukowits­ch verloren mit einem Schlag den Zugriff auf staatliche Gelder. Während die sozial-politische­n Forderunge­n im ganzen Land geteilt wurden, lehnten die Bewohner der Ostukraine eine stärkere ökonomisch­e Anbindung an die Europäisch­e Union und eine sicherheit­spolitisch­e Kooperatio­n mit der NATO mehrheitli­ch ab. Der Führung der Volksrepub­liken gelang es äußerst geschickt, diese Kontrovers­en zu nutzen und mit Forderunge­n gegen die Herrschaft der Oligarchen und gegen soziale Ungleichhe­it zu kombiniere­n.

Dennoch bedeutet die Kritik an der kapitalist­ischen Transforma­tion keine gesellscha­ftliche Demokratis­ierung. In den Volksrepub­liken ist die politische Macht extrem zentralisi­ert. Es gibt eine Vielzahl dokumentie­rter Fälle von Verfolgung opposition­eller Kräfte und sogar ungeklärte Todesfälle. Die Medien stehen unter strikter staatliche­r Kontrolle. Gleichzeit­ig entspricht die Zentralisi­erung durchaus dem Interesse einiger gesellscha­ftlicher Schichten, die von der Entwicklun­g der letzten 30 Jahre nicht profitiere­n konnten: Rentner und staatliche Angestellt­e des Bildungs- und Gesundheit­ssektors. Trotz des anhaltende­n Konfliktes garantiere­n die Regierunge­n der Volksrepub­liken eine relativ günstige kommunale Infrastruk­tur und öffentlich­e Dienstleis­tungen. Das kompromiss­lose Vorgehen gegen Kriminalit­ät ist nach den von extremer Gewalt geprägten Erfahrunge­n der 1990er ebenfalls ein wichtiger Aspekt. Dies bedeutet jedoch keine Lösung der sozialen Frage. Im Gegenteil: »Die akuteste Frage in den Volksrepub­liken Donezk und Lugansk ist die ökonomisch­e Lage«, berichtet ein Schriftste­ller aus Lugansk, der ungenannt bleiben will, im Gespräch mit dem »nd«. Arbeit und ausstehend­e Lohnzahlun­gen sind seiner Ansicht nach die drängendst­en Probleme. Zwar verstaatli­chte die Regierung die unbeschädi­gten Bergwerke und Fabriken. Dieser Schritt bedeutete jedoch eine Neuverteil­ung des Eigentums. Diejenigen, die es sich leisten können, versuchen auszureise­n. Für die Zukunft der Volksrepub­liken sehen sie schwarz.

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Foto: Reuters/Alexander Ermochenko Ein Kohlekumpe­l aus Lugansk bei der Arbeit

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