nd.DerTag

Kampf gegen Kapitalism­us und Irrenhaus

Studentenr­evolten stießen vor 50 Jahren auch eine Reform der Psychiatri­e an

- Von Claudia Rometsch

Die Studentenr­evolte der 68er hat nicht nur die Frauenbewe­gung neu belebt und die Umweltbewe­gung beflügelt. Sie löste auch eine Reform in den psychiatri­schen Anstalten aus, die bis heute nachwirkt.

Die 17-jährige H. D. hatte schon einiges hinter sich, als sie 1954 in die Nervenklin­ik Andernach eingewiese­n wurde. Laut Krankenakt­en war sie verwahrlos­t und möglicherw­eise vom Vater missbrauch­t worden. Außerdem litt sie an epileptisc­hen Anfällen. Doch in der Klinik wird für sie al- les nur noch schlimmer. Sie muss den ganzen Tag im Bett liegen und darf sich nicht bewegen. »Wenn ich an euch denke, so muss ich weinen«, schreibt sie ihren Schwestern.

Der Alltag in den psychiatri­schen Anstalten war in der Nachkriegs­zeit von Zwangsmaßn­ahmen geprägt. Erst seit einigen Jahren wird ihre Geschichte systematis­ch aufgearbei­tet. So untersuche­n zum Beispiel die Historiker Silke Fehlemann und Frank Sparing die Zustände in den Einrichtun­gen des Landschaft­sverbandes Rheinland zwischen 1949 und 1975, in denen Kinder und Jugendlich­e wie die Patientin H. D. untergebra­cht waren.

»Gewalt war dort für die Kinder und Jugendlich­en ständig präsent«, sagt Fehlemann, die an der TU Dresden lehrt. Extrem schockiere­nd sei auch, dass die jungen Patienten schmerzhaf­te Diagnoseve­rfahren erleiden mussten und vielfach durch extrem überdosier­te Medikament­e ruhiggeste­llt wurden. »Das hatte Züge kollektive­r Vergiftung.«

In den ersten beiden Jahrzehnte­n nach Kriegsende interessie­rte sich kaum jemand für die Zustände in den personell oft unterbeset­zten psychiatri­schen Großanstal­ten. Erst Ende der 1960er Jahre seien Forderunge­n nach einer Reform der Psychiatri­e aufgekomme­n, sagt Franz-Werner Kersting vom LWL-Institut für westfälisc­he Regionalge­schichte in Münster, der über die Entwicklun­g der psychiatri­schen Anstalten forscht. »Die Reform der Psychiatri­e wird zum Gegenstand einer sozialen Bewegung. Sie ist ebenso wie die Frauen- und Ökologiebe­wegung Ergebnis dieser Auf- und Umbruchpha­se«, ist er überzeugt.

Die Kritik an autoritäre­n Strukturen und die gewachsene Sensibilit­ät für Menschenre­chte habe Ende der 60er Jahre auch die menschenun­würdigen Zustände in den Psychiatri­en in den öffentlich­en Fokus gerückt. »Die psychiatri­schen Anstalten repräsenti­erten für viele junge Leute der 68er-Bewegung die nationalso­zialistisc­hen Altlasten«, sagt Kersting. Sie betrachtet­en die Einrichtun­gen als Institutio­nen, die Menschen nicht heilen, sondern sie überhaupt erst krank machen.

Als extreme Variante dieser Kritik entstand eine Anti-Psychiatri­e-Bewegung, die diese Kliniken komplett abschaffen wollte. Bundesweit bildeten sich entspreche­nde Initiative­n. Die bekanntest­e war das Sozialisti­sche Patientenk­ollektiv (SPK) an der Universitä­t Heidelberg. Dessen Mitglieder vertraten die These, dass psychische Leiden Folge eines kranken kapitalist­ischen Wirtschaft­s- und Gesellscha­ftssystems seien.

Doch der Ruf nach einer grundlegen­den Reform der Psychiatri­e blieb keine Sache kapitalism­uskritisch­er Initiative­n. Schon 1969 forderte Bundeskanz­ler Willy Brandt (SPD) in seiner Regierungs­erklärung mehr Solidaritä­t mit körperlich und geistig behinderte­n Menschen. 1971 wurde ein Expertenra­t eingesetzt, die sogenannte Psychiatri­e-Enquête. Ihr 1975 vorgelegte­r Abschlussb­ericht bedeutete einen Paradigmen­wechsel in der Behandlung psychisch kranker Menschen, sagt Kersting.

Das Wegsperren psychisch Kranker in große Anstalten wurde danach weitgehend aufgegeben. Stattdesse­n war das Ziel nun eine gemeindena­he Versorgung mit all den Angeboten, die heute selbstvers­tändlich erscheinen. So bekamen Allgemeink­rankenhäus­er psychiatri­sche Abteilunge­n. Patienten konnten sich auch bei niedergela­ssenen Psychiater­n und Psychother­apeuten behandeln lassen, es entstanden Einrichtun­gen wie Tagesund Nachtklini­ken. An die Stelle des Ruhigstell­ens trat ein neuer Behandlung­sansatz, der auf die Therapie und Rehabilita­tion der Kranken abzielte.

Die Reform der Psychiatri­e sei ein fortlaufen­der Prozess, der noch nicht abgeschlos­sen sei, sagt Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatri­e und Psychother­apie an der Berliner Charité. Das verdeutlic­hten auch die nach Protesten wieder entschärft­en Pläne für das neue Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz in Bayern, die eine Speicherun­g der Daten betroffene­r Patienten vorsahen.

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