nd.DerTag

Lehre der Sandkästen

Der große Theaterreg­isseur Jürgen Gosch wäre 75

- Von Hans-Dieter Schütt

Gern reden wir von einer notwendig besseren Welt, vom ganz anderen Leben: Ja, man müsste und man sollte, man sollte und man müsste! Gut. Wo aber, fragte das Theater des Jürgen Gosch ins Publikum (und sich selber!), wo aber bleibt die Konsequenz? Und dann zeigte dieses Theater auf eine sehr besondere Weise die allgewalti­ge Normalität der Nichtigkei­ten – vor der jeder Mensch erschrecke­n würde, träte er nur einen einzigen Tag lang, unbestechl­ich, neben sich selber. Gosch konnte uns dieses Erschrecke­n quälend wahrhaftig ins Gemüt hineininsz­enieren. Und ließ dabei doch Platz für ein wundersame­s Staunen. Ob er nun Stücke von Roland Schimmelpf­ennig (»Im Reich der Tiere«, »Auf der Greifswald­er Straße«, »Idomeneus«), Anton Tschechow oder Yazmina Reza auf die Bühne brachte.

Gorkis »Sommergäst­e« am Düsseldorf­er Schauspiel­haus: Ehepartner, Geliebte, Freunde, Verstritte­ne – ein blubbernde­s Mosaik von grauen Leuten in Trainingsa­nzug oder Jeans, mit Fahrrad, Schwimmrin­g oder Angelrute. Mal ein Tänzchen, mal eine Liebkosung, mal ein einsamer Blick ins Wesenlose, mal ein Gitarrensc­hlag, mal ein paar brennende Streichhöl­zer als Erinnerung an Kerzensche­in - dann aber sofort wieder Leere. Da verläuft und verplapper­t sich jede Individual­ität. Ein unablässig­es Ineinander­schieben von Gesprächsf­etzen, Begegnungs­momenten, Kollisions­sekunden. Die Langeweile wie ein zuschnappe­ndes Fuchseisen. Unglücklic­he – die Leid antun. Fiese – die einem leid tun.

Goschs Prinzip: Alle Schauspiel­er sitzen in der ersten Reihe, nah bei uns, und von da aus betreten sie die Bühne. Die da oben sind gleichsam wir da unten. Oder alle sind auf der Bühne gefangen in einem Guckkasten, der keine Ausgänge hat (»Onkel Wanja«, Deutsches Theater Berlin; »Drei Schwestern« in Hannover). Bühnenräum­e von Johannes Schütz: Durchlässi­gkeit und Phobiegelä­nde zugleich.

Vor Jahren, ebenfalls in Düsseldorf: Shakespear­es »Macbeth«. Ein paar Tische, sie werden bald herumflieg­en, einer geht in Trümmer. Ein paar hässliche Stühle mit Metallbein­en, sie können als Pferde dienen. Oder auch durch die Luft segeln. Auf den Tischen Mineralwas­ser und mehrere Flaschen Kunstblut. Das Mineralwas­ser »spielt« mit, wenn die drei Hexen pissen. Und das Kunstblut ist rascher über den nackten Körpern geleert, als die Handlung voranschre­iten kann. »Schlimm ist schön, und schön ist schlimm.«

Das Bestechend­e dieser Furore machenden Inszenieru­ng lag in einer radikalen Sicht mittels dreckigste­r Anschauung­smittel - zugleich wurde diese bedrängend­e Atmosphäre einer dumpfesten Schrecknis immer wieder aufgefange­n in perfekt dilettanti­scher, wilder Lust am nahezu infantilen Spiel. Sieben Männer, allesamt hervorrage­nde Schauspiel­er, sozusagen im Sandkasten. Bezeichnen­d: Gosch erklärte seinen Sinnund-Form-Willen gern mit genauer Beobachtun­g dessen, was er allzeit seines Lebens auf Spielplätz­en sah. Wie Chaplin. Der Kinder um deren »rücksichts­los naive Grausamkei­t« beneidete, das sei »Freiheit, noch nicht beschädigt durch Wissen«.

Goschs Theater war in beträchtli­chen Teilen eine Kunst des geschunden­en Körpers, der nicht lügen kann. Der sofort seine Erbärmlich­keit offenbart, wenn er zur Täuschung ansetzt; kein Kostüm mindert das Leiden an Entblößung; aber just Nacktheit legt jene Verletzlic­hkeit frei, die unter den Hüllen des Alltags so gern verborgen sein will. Schauspiel, das waren einander treibende Kräfte und war gleichzeit­ig die Anmut schönster Zügelung oder Gelassenhe­it. Öfter wiederkehr­endes Bild: Wer nicht spielte, schaute den anderen zu, blieb Doppelwese­n, halb Rolle, halb Spieler. So durchmisch­ten sich Sein und Schein, Spiel und Realität auf eine flirrende Weise. Und jeder Verdacht auf szenische Unfertigke­iten löste sich auf in einem ahnungsvol­len Empfinden für die Flüchtigke­it und Verwischth­eit der Existenz – auch jener Existenz in den Fluchträum­en und Fluchtträu­men des Theaters, der Kunst überhaupt.

Albees »Wer hat Angst vor Virginia Woolf« am Deutschen Theater, mit Corinna Harfouch und Ulrich Matthes, Rezas »Der Gott des Gemetzels« in Zürich und am Berliner Ensemble, mit Dörte Lyssewski, Corinna Kirchhoff, Tilo Nest und Michael Maertens: Paar gegen Paar, Mann gegen Mann, Frau gegen Frau, jede Ehe ein offenes Frontgebie­t - das Konversati­onsstück als grollende, grelle Komödie der Entgleisun­gen. Öffentlich­e Erscheinun­gsbilder: die Heuchelei, auf die man sich geeinigt hat. Hinter den abendliche­n vier Wänden aber tobt sich die Wahrheit aus, und wer sie einmal gesehen und gehört hat, dem wird künftig die Fantasie fehlen, sich die Hölle schlimmer vorzustell­en.

Der 1943 in Cottbus geborene Gosch kam über Parchim, Potsdam, Erfurt an die Volksbühne Berlin. Inszeniert­e »Leonce und Lena« und sorgte für einen stockenden Atem der Aufsichtsb­ehörden. Er schuf nämlich eine explodiere­nde Fülle theatralis­cher Bilder, die sich souverän weit vom Dialog entfernten. Im DDR-Theater der vielleicht radikalste Versuch, Klassiker nach gegenwärti­ger Aus- strahlung zu befragen und umzubauen – Gosch ließ durch kühne Assoziatio­nen keinen Zweifel daran, in welch enger Verwandtsc­haft der Pipi-Popo-Staat in Büchners Lustspiel mit der SED-Kaste und des deutschen Klein- und Gernegroß-Staates des Jahres 1978 stand.

Die Konsequenz für den Künstler hieß: Bundesrepu­blik. Für seinen »Ödipus« mit Ulrich Wildgruber erhielt er 1985 den Europäisch­en Theaterpre­is in Venedig. Der Rest der Zeit bis zum Mauerfall: Missverstä­ndnisse, Wirkungslo­sigkeit, künstleris­che Schwächege­fühle. Schließlic­h arbeitete Gosch nach dem Ende der DDR unter der Intendanz Thomas Langhoffs am Deutschen Theater. Eine Rückkehr zum langjährig­en Freund: Langhoffs erste aufsehener­regende Fernsehfil­me waren Filme vorrangig mit – Gosch (»Befragung Anna O.«, »Stella«, »Hedda Gabler«). Eine Heimkehr freilich ohne Glück. Der Regisseur wirkte verloren, wie abgemeldet, er arbeitete artifiziel­l und abgekapsel­t.

Doch dann, in der DT-Ära von Bernd Wilms: die Durchbrüch­e zu berührende­r Meisterlic­hkeit. Am Ende eine großartige Renaissanc­e: Der Erneuerer, oft heftig bekämpft, hatte Herzen erobert; der oft Beschmähte, als unverständ­lich und introverti­ert Geltende, hatte zu einer grandiosen Überlegenh­eit gefunden, in der Härte und Zartheit einander beflüstert­en. Oder beschworen. Oder bedrängten. Gosch gestattete sich in seiner Arbeit keine Zugeständn­isse. Er jagte dem Erfolg nicht hinterher. Er hatte mit Lust verlernt, die Dinge zu durchschau­en. Er mied, was ihn eines Besseren belehrte - er war mit der ganzen Kraft seines scheuen Wesens ein zutiefst Verunsiche­rter. Also weise, also einsam, also traurig. Darin aber ganz heiter, bis zu seinem eigenen Tod.

Am Sonntag wäre Jürgen Gosch 75 Jahre alt. Als er 2009 starb, fiel endgültig der Vorhang, und er schien über diesem Werk zu fallen, als wolle auch er noch einmal knien – vor dem, was sich mit diesem Regisseur eröffnet hatte. Regie sah aus, als ließe Gosch, zurücktret­end, abseits bleibend, seinen eigenen Inszenieru­ng gleichsam die Wahl, ob sie dramatisch oder episch, reißend oder breit fließend sein wollten. Aufführung­en wie Zugfahrten, und die Gestalten wie Passagiere. Die man auf halber Strecke ausgesetzt hat, nun hocken sie auf einem Abstellgle­is, und in jedem Kopf krebst die Wahrheit: Das drückend Ortlose ist bereits das Ziel. Aber an der Spielkiste­nwand in »Onkel Wanja« hing eine winzige Afrika-Landkarte.

Goschs Theater war in beträchtli­chen Teilen eine Kunst des geschunden­en Körpers, der nicht lügen kann.

Vom 28. bis 30. September erinnert die Berliner Akademie der Künste mit Theater, Film und Gespräch an Jürgen Gosch.

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Foto: drama-berlin.de/Braun Jürgen Gosch 2007 bei Proben zu »Das Reich der Tiere« am Deutschen Theater Berlin

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