nd.DerTag

Sieben Tage, sieben Nächte

- Stephan Fischer

September. Ein scheinbar endloser Sommer 2018 neigt sich langsam doch dem Ende zu. Ein ganz normaler Sommer. Diese Bewertung mag angesichts der Ereignisse der letzten Wochen verwundern – schon allein der Blick aus dem Fenster lässt doch mehr als nur erahnen, dass da nichts mehr »normal« ist, wenn die Blätterfär­bung am Ende des Augusts eher an Oktober erinnert. Und doch, es ist ein gewöhnlich­er Sommer gewesen, gewöhnlich für den Stand des Klimas und auch einer der Art, an den man sich gewöhnen müssen wird. Denn Hitze, Dürren, Starkregen – von denen kommt zwar viel vom Himmel, aber vom selbigen gefallen sind sie nicht. Die Ursachen sind längst gesetzt, lange bekannt und bloß, weil Phänomene nun plötzlich zutage treten, heißt es nicht, dass sie nicht schon lange, nur weniger bis gar nicht sichtbar vorhanden gewesen sind.

Und so verhält es sich nicht nur mit dem Wetter und dem Klima. Die Ereignisse von Chemnitz – da brechen sich »deutsche Zustände« in Gedanken und Taten Bahn, die in Studien gleichen Namens längst bekannt und benannt sind. Kann denn das völlige Entgleiten eines, falls jemals vorhandene­n, moralische­n Kompasses beim deutschen Innenminis­ter wirklich überrasche­n?

Historisch­e Brüche werden meist erst in der Nachschau zu einzelnen Momenten und auf einzelne Handelnde verdichtet und bekommen so ihr Gewicht, weil sie so einfacher nachzuerzä­hlen sind. Und wenn man mittendrin ist und scheinbar zusammenha­ngslose Ereignisse tagtäglich auf einen einprassel­n, fällt es oft schwer, eine größere Perspektiv­e in den Blick zu nehmen. Vielleicht lässt sich der zu Ende gehende Sommer später aber einmal, als eine von vielen möglichen Erzählunge­n, wie folgt verdichten: Im Sommer 2018 traten so viele Widersprüc­he und Unvereinba­rkeiten plötzlich offen zutage, dass ein Beiseitest­ehen nicht mehr möglich war. Auch wegen der Erkenntnis, dass wirklich jedes Tun oder auch Nichtstun Konsequenz­en hat.

Natürlich kann man in jenem Sommer, in dem riesige Waldbrände nicht mehr nur auf den Panoramase­iten der Zeitung, sondern vor der eigenen Haustür stattfinde­n, unter Polizeisch­utz uralte Wälder für die Braunkohle­förderung roden lassen. Natürlich kann man die Migration als »Mutter aller Probleme« bezeichnen, ohne nicht einmal über den »Vater« nachzudenk­en. Und natürlich kann man in Panik Wählern hinterrenn­en, indem man Probleme und Zustände kleinredet, obwohl diese Wähler für einen nichts als Verachtung haben.

Man kann aber auch sagen, dass jenes Denken und Tun, freundlich formuliert, geistig zu kurz gesprungen ist. Exemplaris­ch der Gedanke, dass wer über Migration spricht, über Ursachen nicht schweigen kann. Und so ist dieser Sommer auch jener der Seebrücken, Proteste gegen Nazis, Bewegungen wie Unteilbar oder Aufstehen. Nur danebenste­hen – das ist nach diesem ganz normalen Sommer immer weniger möglicher Normalzust­and.

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