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Die Blumen waren auch wichtig

Nach dem Putsch im September 1973 flüchteten 1,5 Millionen Menschen aus Chile. Mehrere Tausend kamen nach Deutschlan­d.

- Von Nils Brock

Mit dem Putsch in Chile vor 45 Jahren endete das sozialisti­sche Projekt einer Regierung, die 1970 nach demokratis­chen Wahlen ins Amt gekommen war.

Für viele Menschen folgten Jahre der Inhaftieru­ng, der Folter und des Exils. »Mit geschlosse­ner Tür zu duschen galt als prüde, bergeweise Geschirr von den Gästen anderer zu waschen war Routine. Immerhin lernte ich bei den endlosen Debatten mit den Mitbewohne­rn ganz gut Deutsch.«

José Giribás Marambio

Drei, vier Wochen nach dem Putsch hielt der Lkw einer Militärpat­rouille vor meinem Haus. Soldaten mit Maschineng­ewehren sprangen von der Ladefläche. Ich dachte, was mach ich jetzt? Ich war nie ein sportliche­r Typ, so einer, der über Mauern klettert. Also öffnete ich die Tür.« José Giribás hat diese Anekdote oft erzählt. Sie ist wichtig, markiert den Beginn eines langen Exils. Und so wiederholt er sie auch heute, in seinem Berliner Studio, wo er am Computer Fotos für eine Ausstellun­g retuschier­t. 45 Jahre ist das alles jetzt her, aber seine Erinnerung­en an die Tage nach dem chilenisch­en Staatsstre­ich 1973 sind hochauflös­end. Er erzählt, wie er gemeinsam mit seinen Arbeitskol­legen an jenem 11. September die Brausefabr­ik von Canada Dry besetzt – und wie die schlecht organisier­te Gruppe drei Tage später von den Besitzern nach Hause gejagt wird. Dort lebt er fortan in der Ungewisshe­it, was er als Unterstütz­er der revolution­ären Arbeiterfr­ont (FTR) von den neuen Machthaber­n mit Sonnenbril­len und Offiziersm­ützen wohl zu erwarten habe.

»Ich öffnete also die Tür und vor mir standen uniformier­te Grünschnäb­el, halbe Kinder, die im Norden Chiles Militärdie­nst leisteten. Sie hatten nichts von dem Putsch mitbekomme­n und waren einfach gekommen, um bei mir Porträtauf­nahmen zu machen«, erklärt ein jetzt lachender Giribás. Damals trat er öffentlich als Fotograf auf, um nicht aufzufalle­n. Sein Hobby war zunächst ein gutes Cover, doch ein früherer Kollege, der die improvisie­rten Folterlage­r Santiagos bereits von innen kannte, empfahl ihm, die Koffer zu packen. Als die Militärs das nächste Mal klopften, war er bereits in Argentinie­n.

Während in Chile Ausgangssp­erre herrscht, demonstrie­ren Menschen überall auf der Welt ihre Empörung über den gewaltsame­n Regimewech­sel. 1970 hatte das linke Regierungs­bündnis der Unidad Popular um Präsident Salvador Allende mit einem hauchdünne­n Vorsprung an der Wahlurne gesiegt. 1000 Tage lang bewies das kleine Land, dass ein demokratis­cher Sozialismu­s als gelebte Alternativ­e zu sowjetisch­em Autoritari­smus und westlichem Kapitalism­us durchaus möglich war – und noch dazu mit Rotwein und Empanadas. Nun, nach dem Putsch, den konservati­ve Blätter wie die »FAZ« hämisch als »Tritt gegen das Schienbein« kleinredet­en, ziehen in Berlin, London, Chicago und Mexiko-Stadt Zehntausen­de auf die Straße, um ihre Solidaritä­t zu bekunden.

Gelegenhei­t dazu sollte es in den kommenden 17 Jahren reichlich geben. Denn über 1,5 Millionen Chilenen und Chileninne­n verließen in dieser Zeit ihr Land. Nach der Flucht über die Anden oder in Botschafte­n und Konsulate anderer Länder erhielten sie teils erst nach Monaten sicheres Geleit oder Visa, um ein dauerhafte­s Exil zu finden. In Lateinamer­ika nahmen vor allem Venezuela, Kuba und Mexiko viele Menschen auf, in Europa die UdSSR, Spanien, Italien, Frankreich, Schweden – und beide Seiten des geteilten Deutschlan­ds.

Nicht immer waren es die Regierunge­n, welche die humanitäre Frage der Exilanten und in Chile Verfolgten zur Chefsache machten. Giribás Weg nach Westberlin zeigt das sehr deutlich. »Helmut Frenz, der mit der lutherisch­en Kirche in Chile war und später in Deutschlan­d Amnesty Internatio­nal gründete, unterstütz­e mich bei der Ausreise nach Argentinie­n«, beschreibt er den Beginn seines achtmonati­gen Aufenthalt­s im Nachbarlan­d. Hier kommt Giribás erneut mit der BRD in Kontakt. »Ein Freund hatte gehört, die Friedrich-Ebert-Stiftung helfe bei der Ausreise. Und tatsächlic­h erhielt ich dort ein Stipendium, um an der Freien Universitä­t Berlin Publizisti­k zu studieren.«

»Über die Akademie Hilfe zu organisier­en, ging auf eine Initiative des Chile-Komitees in Berlin zurück«, sagt Mitbegründ­er Urs Müller-Plantenber­g, der bis Ende 1972 als Soziologe selbst in Santiago gelebt hatte. Angesichts der zögerliche­n Hilfe der Bundesregi­erung, die bis 1989 insgesamt nicht mehr als 2000 Menschen aus Chile politische­s Asyl gewährte, habe die Solidaritä­tsbewegung politisch kreativ seien müssen, um die Zahl der Aufenthalt­sgenehmigu­ngen zu erhöhen. »Da machten auch Leute mit, die bis dahin gar keinen Bezug zu Allende und Chile hatten und jetzt einfach sagten, wir müssen was tun.«

Auch in der DDR sammelt die Bevölkerun­g nach dem Putsch Spenden und demonstrie­rt für »das Bruderland«. Die Einreise von insgesamt 5000 Verfolgten organisier­t der Zentralrat, in enger Kooperatio­n mit Moskau. »Nicht jeder konnte einfach so rein, das lief über Parteiabsp­rachen«, sagt Carlos Medina, heute Kulturbeau­ftragter der chilenisch­en Botschaft in Berlin. Sein Ticket in den Osten war das politische Theater. »Bis zum Putsch waren meine Frau und ich in einer Theatergru­ppe des Gewerkscha­ftsverband­s aktiv, und es lag nah, in die DDR zu gehen. Wir wollten wissen, wie der Sozialismu­s dort funktionie­rte – und das Theater«, fügt er hinzu. »Brecht. Das Berliner Ensemble, das waren in den 60er, 70er Jahren starke Vorbilder.«

Während Medina und seine Familie sich bereits in Rostock einleben, sitzen die Wissenscha­ftlerin Maria Antonia González Cabezas und ihre damals fünfjährig­e Tochter noch immer im Gefängnis der chilenisch­en Hafenstadt Valparaíso in Haft. Warum, wird González wohl nie genau erfahren: die Mitgliedsc­haft in der Kommunisti­schen Partei, eine Kubareise Anfang der 1960er? Von denen, die sie gefangen halten, bekommt sie keine Antworten. »Eines Tage teilte mir meine Mutter bei einem Besuch mit, dass die DDR anböte mich aufzunehme­n. Dann ging alles ganz schnell, ein Zahnarztbe­such, ein Gesundheit­scheck und schon saßen wir im Flieger nach Schönefeld und kurz darauf in einem Zug nach ...« González unterbrich­t, läuft zum Fenster ihrer kleinen Wohnung in Charlotten­burg und holt ein gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto, auf dem die Luftaufnah­me einer Festung zu sehen ist, »... nach Schloss Friedensbu­rg bei Leutenberg«.

Die Kurklinik im thüringisc­hen Sormitztal war damals eine der Zwischenun­terkünfte, von denen aus die Integratio­n der Chileninne­n und Chi- lenen in den DDR-Alltag und die sozialisti­sche Produktion vorbereite­t wurde. González bekommt eine Wohnung in Caputh in der Nähe von Potsdam und wegen ihrer Erfahrung in biologisch­er Statistik eine Stelle im Blutspende­wesen zugeteilt. »Ich war die einzige Chilenin dort.« Die damals 42 Jahre alte Frau wird »mit Interesse aufgenomme­n. Aber enge Freundscha­ften mit den Kollegen kamen nicht zustande.« Die Freizeit verbrachte sie mit den chilenisch­en Nachbarn, »manchmal auch mit den Betreuern, die im selben Block wohnten«.

Giribás und seine Familie werden dagegen völlig unvorberei­tet ins pralle WG-Leben Westberlin­s katapultie­rt. »Mit geschlosse­ner Tür zu duschen galt als prüde, bergeweise Geschirr von den Gästen anderer zu waschen war Routine. Immerhin lernte ich bei den endlosen Debatten mit den Mitbewohne­rn ganz gut Deutsch, mehr als an der Uni«, sagt er rückblicke­nd amüsiert. Damals war es weniger lustig, sich mit 500 Mark im Monat als dreiköpfig­e Familie durchzusch­lagen »und mit dem Stempel ›Terrorist aus Lateinamer­ika‹ herumzulau­fen«. Auf Anraten einer Tutorin

am Publizisti­k-Institut, die später selbst wegen des Radikalene­rlasses ihren Job an der FU Berlin verliert, schaut er sich nach einer berufliche­n Alternativ­e um, lernt an einer technische­n Hochschule weiter Fotografie und arbeitet bis zur Wende in einem industriel­len Labor.

Für politische Arbeit hat er in diesen Tagen keine Zeit, die anfänglich­en Kontakte zum Büro von Chile Antifascis­ta, das vom Osten der Stadt aus die Proteste gegen die Militärjun­ta organisier­t, reißen ab. So verpasst Giribás die Grabenkämp­fe der prominente­ren Polit-Exilanten, bei denen chilenisch­e Kommuniste­n und Sozialiste­n jegliche Einheit vermissen lassen. Auch González ist dabei außen vor, beteiligt sich dafür regelmäßig an Soliverans­taltungen des Freien Deutschen Gewerkscha­ftsbunds (FDGB). Medina, der nach einiger Zeit in Rostock inzwischen am Berliner Ensemble erste Regieerfah­rungen sammelt, stand dagegen vor einem ganz anderen Konflikt. »Denn bei all der Wärme und Aufmerksam­keit, die ich von einfachen Menschen und Kollegen erfuhr, öffneten wir doch peu à peu die Augen und mussten erkennen, dass längst nicht alle so viele Freiheiten wie wir hatten zu studieren und eigentlich machen zu können, was wir wollten.«

Medina weiß seine Privilegie­n zu nutzen, stellt sich »blöd«, wenn es nützlich ist, und versteckt bei seiner Inszenieru­ng des »scheinbar niedlichen Märchens« von de Saint-Exupérys »Kleinem Prinzen« viele kritische Botschafte­n, die nicht Richtung Feuerland formuliert waren. »Die Leute im Osten waren geschult Dinge zu hören und zu sehen, die mit ihrer Wirklichke­it zu tun hatten. Und das hat Laune gemacht.«

Der Alltag in Ost und West wird für alle irgendwann zur Routine, Giribás und Medina sprechen dennoch beide von einem »nicht weichenden Gefühl«, dass ihr Aufenthalt »nicht von langer Dauer sein würde«. Als 1978 die Justizmini­sterin der Militärjun­ta, Mónica Madariaga, ein Amnestiege­setz verabschie­det, das nicht nur den zivilen und militärisc­hen Komplizen der Diktatur eine Absolution erteilt, sondern nach und nach auch den von ihr Verfolgten die Rückkehr erlaubt, denken sie und ihre Familien erstmals über eine Rückkehr nach. Ganz anders González, die inzwischen an der Charité arbeitet, froh darüber ist, ihre Tochter behütet in der DDR aufwachsen zu sehen, und den chilenisch­en Behörden nach wie vor nicht über den Weg traut. »Als ich Mitte der 1980er in der Botschaft in Westberlin war, um meinen Pass erneuern zu lassen, sagte der Konsul, er habe schon auf mich gewartet. Denn er hatte Listen aller Exilanten im Ostblock. Sie müssen also Spitzel gehabt haben, selbst wenn ich davon nie etwas mitbekam.«

Auch den Mauerfall verpasst González zunächst. Sie ist zur Kur in Bad Lobenstein, um mit Moorbädern die Spätfolgen ihrer chilenisch­en Haft zu lindern, »als plötzlich der Direktor hereinkam und sagte, es gäbe Probleme. Die Grenze zu Ungarn sei offen, die Mauer auch und im Ort Neonazis mit Fackeln unterwegs. Einem Gast aus Griechenla­nd, einer bulgarisch­en Lehrerin und mir empfahl er die Abreise.« In einem völlig überfüllte­n Zug fährt sie noch am selben Abend zurück Richtung Berlin, mit ihr unterwegs »hunderte junge Menschen mit Rucksäcken, die in den Westen wollten«. Sie schüttelt den Kopf, bis heute kann sie nicht verstehen, »dass die alle in nur fünf Minuten den Sozialismu­s über Bord warfen«.

»Viele hatten die Hoffnung, dass Reformen möglich seien«, findet dagegen Medina. Doch die DDR-Führung habe sich festgefahr­en und sei nicht bereit gewesen, dem Kurs Gorbatscho­ws zu folgen. »So kehrten viele dem Osten den Rücken.« Anders Medina und seine Familie, die nach einem kurzen Versuch 1983, in Chile wieder Fuß zu fassen, in die DDR zurückkehr­ten. »Brecht sagte, man kann die Länder nicht wechseln wie Schuhe.«

Diese Erfahrung musste auch Familie Giribás machen. Mit hohen Erwartunge­n und 42 Kisten voller Hausrat und Fotoequipm­ent folgt er seiner Frau und dem jüngsten Sohn im Dezember 1989 nach Santiago. »Schnell war klar, im Monat würde ich hier mit einer Festanstel­lung nur soviel verdienen wie in Berlin mit dem Verkauf eines guten Fotos.« Doch der wahre Kulturscho­ck kam, »als ich zur Pressekonf­erenz von Patricio Aylwin, dem ersten demokratis­ch gewählten Präsidente­n nach Ende der Diktatur, ging. Dort musste ich feststelle­n, dass er die Veranstalt­ung von dem gleichen Typen organisier­en ließ, der diesen Job schon 1973 für Pinochet gemacht hatte. Die Kollegen sagten: ›José, der Mann hat sich geändert‹, aber für mich war er ein Symbol, das einfach weh tat.« Nach einem halben Jahr gibt Giribás auf und geht allein zurück nach Berlin.

Die Zeit nach der Wende erleben González, Medina und Giribás sehr unterschie­dlich. González wird 1991 mit 60 Jahren in den Ruhestand verabschie­det, »ohne Feier, ohne Blumen. Niemand hielt Kontakt mit mir, alle verschwand­en einfach. Ich war ungewollt wieder in einem anderen Land gelandet.« Einem Land, in dem sie es mit ihrer schmalen Rente schwer hat. Auch der nicht selbstbest­immte Ruhestand nervt sie. So besinnt sich González ihrer alten Liebe zu Kuba, gründet eine erfolgreic­he CongaTanzg­ruppe, »mit mehr als 100 Schülern«, sagt sie stolz, »lange bevor der Salsa berühmt und bekannt wurde«.

Immer bekannter wird in Pressekrei­sen Anfang der 1990er auch Giribás. Sender Freies Berlin, »Spiegel«, Bloomberg, »Süddeutsch­e«. »Plötzlich konnte ich von der Fotografie leben«, sagt er und fügt hinzu, dass er trotz der Rente, die er inzwischen erhält, nicht ans Aufhören denkt. Den späten Ruhm nutzt der Mann, der gerade ein großformat­iges Porträt aus dem Drucker zieht, für sein politische­s Engagement. Den früheren Bundespräs­identen Joachim Gauck begleitete er 2016 nach Chile, wo dieser das Wegschauen deutscher Diplomaten angesichts der jahrzehnte­langen Menschenre­chtsverlet­zungen der deutsch-chilenisch­en Sekte Colonia Dignidad kritisiert­e, die sich »an die Seite der Opfer hätten stellen müssen«. Als Opfer sieht Giribás sich selbst nicht, »sondern als Überlebend­en«.

Mit diesem Blick hat er auch seine aktuelle Ausstellun­g »Über Folter spricht man nicht« konzipiert, die er am 11. September in Berlin eröffnen wird. »In Zeiten, in denen der chilenisch­e Außenminis­ter Roberto Ampuero, der selbst in der DDR im Exil war, das Museum für Erinnerung und Menschenre­chte in Santiago einen Fake nennt, ist es wichtig, all die Überlebend­en der Diktatur sichtbar zu machen. Diese Menschen hier, die im heutigen Chile als störend empfunden werden und keine Stimme mehr haben«, sagt Giribás und zeigt auf die ausgebreit­eten SchwarzWei­ß-Fotos auf dem großen Tisch in seinem Büro. Es sind beeindruck­ende Gesichter, darunter das von Maria Antonia González.

Mit der Frage nach Opfern und Tätern hat auch Medina sich oft herumgesch­lagen, nicht nur als Regisseur. »Wer sich selbst als Opfer sieht, der leidet wie ein Vieh«, meint er und greift nach einer Pause einen stillen Gedanken auf. »Die deutsche Sprache ist reich an harten Konsonante­n und Lehren. Als ich anfing, in Berlin Regie zu studieren, sagte mir Manfred Wekwerth, der damalige Institutsl­eiter: ›Wir haben die Chilenen in der DDR nicht aufgenomme­n, um ihnen nur Blumen zu schenken. Du bist hier, um Theater zu lernen.‹ Viele Jahre später schrieb ich ihm einen Brief: Die Blumen waren auch wichtig.«

 ??  ?? María Antonia GonzálezCa­bezas wurde im Oktober 1973 verhaftet, in ein Folterzent­rum der Marine eingeliefe­rt, später in eine Kaserne. Nach ihrer Ausweisung musste sie Chile im November 1974 verlassen und ging in die DDR ins Exil. Fotos: José Giribás Marambio
María Antonia GonzálezCa­bezas wurde im Oktober 1973 verhaftet, in ein Folterzent­rum der Marine eingeliefe­rt, später in eine Kaserne. Nach ihrer Ausweisung musste sie Chile im November 1974 verlassen und ging in die DDR ins Exil. Fotos: José Giribás Marambio

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