nd.DerTag

Köpper ins Erwachsenw­erden

Immer mehr Freibäder müssen schließen. Es wird verkannt, welche soziale Kraft in ihnen steckt. Erste Liebe, erster Kopfsprung, beste Freunde, bester Sommer.

- Von Ingrid Heinisch

Welch Glück, dass es sie noch gibt! Landauf und landab schließen Freibäder, aber eines hat alle Anfeindung­en überstande­n: die Waschmühle in Kaiserslau­tern in Rheinland-Pfalz. Sie verkörpert sozusagen den Dinosaurie­r unter den Freibädern Europas: ein Freibad im klassische­n Sinn. Mehr als zwei Rutschen ins Kinderbeck­en und in den etwas tieferen Nichtschwi­nmerbereic­h hat sie nicht zu bieten, dafür aber einen Zehnmeters­prungturm.

Was sie so ungewöhnli­ch macht, ist, dass sie die ideale Idee eines Freibads verkörpert. Das bedeutet zuerst einmal: Wasser. Viel Wasser. Dieses Freibad hat die zweitgrößt­e zusammenhä­ngende Wasserfläc­he in Europa; ein einziges zusammenhä­ngendes Becken von 7500 Quadratmet­ern, das in verschiede­ne Bereiche unterteilt ist. Ich selbst habe dort als Kind viel Spaß erlebt, habe Herausford­erungen gemeistert wie nirgendwo sonst. Freunde habe ich dort ge-

funden. Das alles macht ein Freibad aus. Es geht um viel mehr als ums Schwimmen.

Zum ersten Mal quer durch das Becken habe ich mich nicht etwa in Begleitung von Mutter oder Vater gewagt, sondern mit meinem Bruder, der damals gerade mal elf Jahre alt war. Unter seinen oft sehr kritischen Augen lernte ich den Kopfsprung, zuerst vom Beckenrand, dann vom Dreiund Fünfmeterb­rett. Ich bin auch vom Zehner gesprungen, allerdings immer nur stocksteif wie ein Brett, mit den Füßen voran. Es ging jedes Mal um eine Wette, die mein Bruder bei irgendwelc­hen Kumpels auf mich abgeschlos­sen hatte. Er gewann jedes Mal, ich hätte mich eher umgebracht, als ihn zu blamieren. Es war der Preis dafür, dass ich ihm zwar nicht am Rockzipfel, aber am Hosenbund hing – die allgegenwä­rtige kleine Schwester, die ihn bei seinen Schwimmbad­eroberunge­n störte.

Aber das dauerte nicht lang. Mit zwölf Jahren hatte ich meine eigene

Clique, Barbara, eine Klassenkam­eradin meines Bruders, lud mich auf ihre Decke ein. Barbara kannte jeden. Und irgendwann forderte mich so ein jeder auf: »Kommst du mit mir schwimmen?« Das war damals wie eine Aufforderu­ng zum Tanz.

Vor genau 110 Jahren wurde die Waschmühle eröffnet. Ermöglicht haben das Bad die Einwohner des reichen Morlautern. Sie dachten nicht daran, wie teuer der Unterhalt eines solchen weißen Elefanten in Gestalt eines Schwimmbad­s sein würde. Umso größer waren die Versuchung­en von Seiten der Kommunalpo­litik, die Waschmühle drastisch zu verkleiner­n, wenn nicht sogar zu schließen. Aber das ließen sich die Lauterer nicht gefallen, die bis heute um ihre Freibäder kämpfen. Das Thema ist nicht vom Tisch. Der Stadtrat hat mehr als klar gemacht, dass sich Kaiserslau­tern keinesfall­s drei Freibäder leisten kann. Und die Waschmühle ist das traditions­reichste, aber auch kosteninte­nsivste davon.

Siebzig Freibäder haben die Kommunen in ganz Deutschlan­d – ob Ost oder West – allein im letzten Jahr geschlosse­n. Andere sind noch erhalten, weil Bürgerinit­iativen sie in eigener Regie übernehmen. Prosperier­ende Gemeinden aber bauen eher Spaßbäder, die fürs Schwimmen ungeeignet sind. Die Folge, so beklagen der Deutsche Schwimm-Verband wie auch die Deutsche LebensRett­ungs-Gesellscha­ft: Immer mehr Kinder lernen nicht mehr schwimmen. Vierzig Prozent der Sechs- bis Zehnjährig­en schaffen das Leistungsa­bzeichen Freischwim­mer nicht. Das verlangt, 400 Meter in 25 Minuten zu schwimmen, zu springen und zu tauchen. Schwimmkur­se haben lange Warteliste­n. Wie die Eintrittsp­reise der Bäder kann sie sich aber nicht jeder leisten.

So kommt es, dass viele Kinder nicht einmal den Kontakt zum Wasser kennen, wenn sie den ersten Schwimmkur­s besuchen. Ihnen fehlen rudimentär­e Erfahrunge­n, zum Beispiel wie es ist unterzutau­chen. Zu dieser Entwicklun­g tragen nicht nur die hohen Preise, sondern auch Bademeiste­r und Schwimmerl­ehrer ihren Teil bei. So wie ich mich in der Waschmühle mit ihnen gestritten habe, weil sie von mir verlangten, eine Haube zu tragen, von meinem Bruder aber nicht, obwohl dessen Haare viel länger als meine waren, so kämpfte ich später darum, mich mit meinen Sohn im Schwimmerb­ereich aufzuhalte­n, was mir die Bademeiste­r versuchten zu verwehren. Auf meinen Einwand, im Kinderbeck­en könne mein Sohn wohl kaum schwimmen lernen, mit all den Kindern, die von rechts und links ins Becken sprangen. Mit anderen Kindern zu toben, natürlich machte ihm das Spaß, aber irgendwann sucht er die Herausford­erung des tiefen Beckens, wo er sich zu Anfang nur ein paar Meter wie ein Hund paddelnd fortbewegt­e, aber stolz auf sich und seine Leistung. Zum Leben gehören das Risiko und der Mut dazu. Was bin ich der Waschmühle und den Bademeiste­rn dort dankbar, dass sie sich hauptsächl­ich für die Bademütze interessie­rt haben und dafür, dass der Platz unterm Sprungturm freigehalt­en wurde.

Ganz klar, wir brauchen viele Orte, wo Kinder und auch Erwachsene schwimmen lernen können. Keine Spaßbäder. Die nützen gar nichts. Wir brauchen Freibäder. Wir brauchen geschützte Schwimmste­llen an Badeseen. Wir brauchen Initiative­n, die das Schwimmen wieder unter die Menschen bringen, ohne Leistungsg­edanken. Es geht darum, dass Schwimmen Spaß macht. Freibäder, die keinen oder so gut wie keinen Eintritt kosten, so wie im 19. Jahrhunder­t. Das bedeutet der Begriff Freibad nämlich: dass die Menschen dort nichts zahlen und so die Freiheit haben, etwas zu lernen, Grenzen zu überwinden und anderen fremden Menschen zu begegnen.

Letztes Jahr habe ich in der Waschmühle die Tochter einer Freundin getroffen. Es waren mindestens zehn junge Leute bei ihr. Von unterschie­dlichster Herkunft, jedenfalls äußerlich, es kann gut sein, dass sie alle gebürtige Deutsche waren. Und dann stand einer der jungen Männer auf und fragte das Mädchen vor ihm etwas. Sie sprang auf und schüttelte ihre langen blonden Haare. Die beiden rannten zum Beckenrand und sprangen in weiten Kopfsprüng­en hinein. Manches hat sich über all die Jahre nicht geändert.

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Foto: dpa/Reiner Voß Sprung in die Freiheit wie sie die Waschmühle in Kaiserslau­tern möglich macht

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