nd.DerTag

Ein Leben für die Revolution

Von Dichtern, Funktionär­en und der Faszinatio­n der Avantgarde

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Er wurde als drittes Kind eines Försters in einem georgische­n Dorf geboren, das später jahrzehnte­lang seinen Namen trug. Mit neun siedelte er in die Stadt über und besuchte das Gymnasium. Von Beginn an war er ein herausrage­nder Schüler und erhielt fast immer beste Noten. Er las viel, vor allem Reiseberic­hte, Naturschil­derungen und fantastisc­he Geschichte­n. Doch bald schon fesselten ihn die Ereignisse des realen Lebens mehr als jedes Buch. Er wurde in einen marxistisc­hen Zirkel eingeführt und nahm an politische­n Demonstrat­ionen und Versammlun­gen teil.

Als er 13 war, starb sein Vater an den Folgen einer Blutvergif­tung. Die Familie zog daraufhin nach Moskau, wo seine Schwester studierte. Die Lebensverh­ältnisse seien dort kümmerlich gewesen, schrieb er in seiner Autobiogra­fie. »Mutter muss Mieter und Kostgänger aufnehmen. Elende Zimmer. Es wohnen arme Studenten darin, Sozialiste­n.« Aufs Gymnasium ging er weiterhin, doch als seine Mutter das nötige Geld dafür nicht mehr aufbringen konnte, musste er die Schule verlassen.

Mit 15 wurde er Mitglied des bolschewis­tischen Flügels der Sozialdemo­kratischen Arbeiterpa­rtei Russlands. Besonders gern übernahm er agitatoris­che Aufgaben. Hierbei geriet er in eine Falle der Polizei und wurde verhaftet. Doch er hatte Glück. Wegen seines jungen Alters blieb ihm eine Deportatio­n nach Sibirien erspart. Im Gefängnis begann er, Gedichte zu schreiben, die ihm jedoch von den Aufsehern abgenommen wurden. Nach seiner Entlassung aus der Haft nahm er an der Kunstfachs­chule ein Studium der Malerei auf. Zudem fand er Anschluss an eine futuristis­che Gruppe, deren Mitglieder sich gegen das Überkommen­e in der Kunst wandten und versuchten, neue Wege in der Ästhetik zu beschreite­n. In dem Almanach »Eine Ohrfeige für den öffentlich­en Geschmack« erhielt er endlich Gelegenhei­t, seine Gedichte zu veröffentl­ichen, die sich in der Folge immer schärfer gegen die herrschend­en Verhältnis­se richteten.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde er als unzuverläs­siges Element vom Militär abgewiesen. Er ließ sich daraufhin in Petrograd nieder und arbeitete vorübergeh­end in einer Fahrschule. Nach dem Sieg der Revolution kehrte er nach Moskau zurück und unterstütz­te enthusiast­isch das neue politische System. Er rezitierte Gedichte vor Matrosen und entwarf satirisch-agitatoris­che Plakate für eine Nachrichte­nagentur. Außerdem fuhr er quer durchs Land, um die Massen für den Sozialismu­s zu begeistern. Zigtausend­e besuchten seine Lesungen; dennoch dürfte vielen der Sinn seiner Texte verschloss­en geblieben sein. Besonders verehrte er Lenin, der allerdings den jungen Dichter anfangs nicht schätzte und erst später – unter dem Einfluss seiner Frau Nadeshda Krupskaja – sein Urteil teilweise revidierte.

In den 20er Jahren unternahm der von uns Gesuchte mehrere Reisen ins westliche Ausland. Vorab hatte er die Order erhalten, jeglichen Kontakt mit politische­n Emigranten aus Russland zu vermeiden. Am Bauhaus in Weimar traf er mit Wassili Kandinsky zusammen. In Paris begegnete er Igor Strawinsky und Jean Cocteau. Bei einem Aufenthalt in den USA hatte er eine Affäre mit einer Schauspiel­erin, aus der eine Tochter hervorging, von der die Öffentlich­keit lange nichts erfuhr.

Als er in die Sowjetunio­n zurückkehr­te, war die Zeit avantgardi­stischer Experiment­e vorbei. Seine Stücke, in denen er unter anderem die fortschrei­tende Bürokratis­ierung der Gesellscha­ft kritisiert­e, galten vielen Funktionär­en nun als subversiv. Ein neues Auslandsvi­sum wurde ihm verweigert. Hinzu kam eine unglücklic­he Liebe, die ihn vollends verzweifel­n und zur Pistole greifen ließ. Als er sich damit ins Herz schoss, war er 37 Jahre alt. »Bin quitt mit dem Leben«, schrieb er in einem zurückgela­ssenen Brief. »Gebt niemandem die Schuld, dass ich sterbe, und bitte keine Gerede. Der Verstorben­e hat das ganz und gar nicht gemocht.« Wer war’s?

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Foto: nd/Frank Schirrmeis­ter Der Preis für das aktuelle Rätsel ist das Buch »Weltordnun­g ohne den den Westen?« von Gernot Erler. Einsendesc­hluss ist der 1.10.

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